Jakob Augstein ist Deutschlands linkes Gewissen. Dabei tragen seine Moralvorstellungen durchaus perverse Züge. Ein Versuch über die Irrwege des Linksseins.
Was bedeutet es eigentlich, links zu sein? Der Begriff ist schwammig und kaum mehr in der Lage, eine widerspruchsfreie Positionsbestimmung vorzunehmen. Ein Beispiel: Es ist ein lang gehegter Traum der Linken, feste Staatsgrenzen und das Nationalitätsprinzip zu überwinden. Geht es aber um den Handel von Waren und Dienstleistungen, können die Mauern zwischen verschiedenen Staaten nicht hoch genug sein. Und während die anarchistische Linke mit der Auflösung des Staatsapparats liebäugelt, würde die kommunistische und sozialistische Linke ihn gerne vergrößern. Sowohl was den Ausbau des Sozialstaats, als auch die behördliche Regulierung von Bildungs-, Wirtschafts- und Finanzwesen angeht. Würde man die anarchistische und sozialistische Linke also entlang eines politischen Spektrums verorten, müsste man je nach Themenfokus die seltsame Feststellung machen, dass die unisono als rechtshysterisch eingestufte amerikanische Tea-Party-Bewegung zwischen „anarchistisch“ und „sozialistisch“ ihr politisches Zuhause hat. Kann ja jetzt irgendwie nicht sein.

Will the real linke lady please stand up?
Vielleicht ist es hilfreich, ein bisschen mehr Abstand von konkreten politischen Fragestellungen zu nehmen, und darüber nachzudenken, was die grundlegenden Prinzipien linken Denkens sind. Hier ein sehr grober Bestimmungsversuch in 40 Worten. Ein waschechter Linker sollte meiner Meinung nach den folgenden Aussagen ohne Zögern zustimmen können:
1) Das höchste Gut im Leben ist die Gerechtigkeit (gemeint ist jene Gerechtigkeit, die sich gut mit der Gleichheit versteht).
2) Die Schaffung einer gerechten Welt ist die Hauptaufgabe der Politik.
3) Zu viel Macht in den Händen weniger Menschen führt ins Verderben.
Ich persönlich habe immer größere Schwierigkeiten, mich als „links“ zu identifizieren, selbst wenn ich mit vielen linken Positionen sympathisiere. Das liegt vor allem an den ersten beiden Punkten, deren sozialutopische Komponente mir Angst macht. Ja, Gerechtigkeit ist ein Ideal, das jede Gesellschaft anstreben sollte, aber nicht um jeden Preis. Ja, Politiker sollten Ideale haben, aber sie sollten die Gesellschaft nicht als Modellbaukasten begreifen. Jedenfalls war ich in den Tagen und Wochen nach der amerikanischen Präsidentschaftswahl zum ersten Mal in meinem Leben wirklich heilfroh darüber, kein Linker zu sein. Ich möchte dieses Gefühl erklären, und zwar anhand der Person Jakob Augsteins, Deutschlands wohl prominentestem Linksvertreter (ohne politisches Mandat).
Jakob Augstein schreibt eine Kolumne („Im Zweifel links“) für den Spiegel, ist Herausgeber der Wochenzeitung Der Freitag und fetzt sich auf Phoenix regelmäßig mit dem stellvertretenden Bild-Chef Nikolaus Blome. Im Berliner Gorki-Theater führt er im Namen des radio eins und Freitag Salons regelmäßig Podiumsgespräche mit Menschen aus Politik und Gesellschaft, und auch er selbst ist immer wieder Gast in den TV-Talks der öffentlich-rechtlichen Sender. Wer sich nach dem Ende der amerikanischen Präsidentschaftswahl für die Meinung Augsteins zur Weltlage interessiert hat, konnte folgendes von ihm lesen oder hören: „Es ist das Ende dieser westlichen Form von Demokratie.“ „Wir stehen an der Schwelle zu einem autoritären Zeitalter.“ „Donald Trump ist kein Rechtspopulist, er ist ein Faschist.“ „Die Wahl Donald Trumps ist das Ende des Westens.“ „Es ist over, es ist vorbei.“
Schluck.
Aber wer will es Augstein verübeln, dass er so ein Schwarzmaler ist? Am Ende könnte er ja Recht behalten, wer weiß das schon. Es ist auch nicht dieser abgrundtiefe Pessimismus in seinen Aussagen, der mich so seltsam anwidert. Die Welt nach dem 8. November ist eine andere geworden. Der Untergang unserer Zivilisation mag ein noch immer sehr unwahrscheinliches Szenario sein, aber das ändert nichts daran, dass er mit Trumps anstehender Präsidentschaft um ein Vielfaches wahrscheinlicher geworden ist. Nur: Augsteins Pessimismus ist nicht aufrichtig. Er ist eine Pose. Das wird deutlich, wenn man einer Aussage wie „Die Wahl Donald Trumps ist das Ende des Westens“ folgende, von kurz vor der Wahl, gegenüberstellt: „Trump wäre in der Frage von Krieg und Frieden vermutlich die bessere Wahl als Clinton.“ Ah ja. Hm. Haben die Amerikaner per Stimmzettel das Ende des Westens eingeleitet und gleichzeitig in Sachen Friedenspolitik „die bessere Wahl“ getroffen? Beides, indem sie Trump zum Präsidenten gemacht haben? Wie geht das zusammen? Erstaunlich gut, vorausgesetzt man ist Moralmasochist.

Jakob Augstein: smart, schön, gefährlich.
Exkurs: Psychogramm eines Moralmasochisten
Der Moralmasochismus ist ein Fetisch, dem man vor allem innerhalb des linken politischen Spektrums reicher westlicher Industrienationen begegnet. Seine Anhänger sehen in der westlichen Welt – dem Kulturkreis, dem sie entstammen – ein global agierendes Verbrechersyndikat, das in den Bereichen Täuschung, Unterdrückung und Ausbeutung tätig ist. Jeder vermeintliche zivilisatorische Vorsprung anderen Kulturkreisen gegenüber ist entweder gewaltsam erzwungen, oder eine ideologische Fabrikation, die den herrschenden Eliten der Festigung ihrer Macht dient. Der Moralmasochist durchschaut diese globalen Machtstrukturen. Nicht zuletzt deshalb, weil er als Westler einen privilegierten Zugang zu den Mechanismen der Macht und ihren Wissens- und Konsensmanufakturen genießt. In der Überzeugung, als Westler die Hauptverantwortung für alles Übel in der Welt zu tragen, gewinnt die systemische Kritik des Moralmasochisten einen ganz besonderen Glanz. Denn zeugt es nicht von charakterlicher Größe und selbstlosem Idealismus, von der Kanzel der Macht herab die eigene Scheinheiligkeit und Verkommenheit anzuprangern? Auch gewinnt seine Kritik an Glaubwürdigkeit und Brisanz: was lässt gefestigte Weltbilder eher ins Wanken geraten? Die Anklage des Unterdrückten gegen die Unterdrücker, oder die des Unterdrückers gegen sich selbst? Der Moralmasochist befindet sich in einer überaus bequemen Lage. Während der westliche Kulturkreis das Monopol der Macht innehat, verfügt er über die Deutungshoheit, Vergangenheit und Gegenwart moralisch zu bewerten. Er ist ein Kind des Systems, und daher kann nur er das System überzeugend entlarven. Das Mea culpa des Moralmasochisten ist kein Eingeständnis, es ist eine Einforderung. Niemand sonst soll vom Kuchen der Schuld ein Stück abhaben. Zum leeren Ritual verkommt diese Form der Selbstkritik in dem Moment, in dem sie sich dem Aufzeigen von Handlungsalternativen und politischen Gegenentwürfen verweigert. Die Kritik des Moralmasochisten nicht konstruktiv, sie ist nicht einmal destruktiv. Dazu fehlt ihr der echte Glaube an einen Wandel. Sie ist nichts weiter als zur Schau gestellter Selbstzweck. Die Moralmasochisten sind die linksintellektuelle Wiedergeburt der mittelalterlichen Flagellantenzüge.

Die Flagellanten ziehen wieder um die Häuser.
Rekurs Jakob Augstein. Vor der Präsidentschaftswahl zu sagen, dass ein Sieg Trumps auf eine friedlichere Zukunft hoffen lassen würde, nur um dann nach seiner Wahl das Ende der westlichen Demokratie und die Wiedergeburt des Faschismus herbeizumenetekeln, ist selbstentlarvend. In Sachen Krieg und Frieden sei Trumps Weste, anders als die Clintons, sauber, lautete Augsteins lächerliches Argument. Doch Trump, der Reality-TV-Star und Immobilienmogul, hatte nie eine Position politischer Verantwortung inne. Seine Weste ist also nur deshalb sauber, weil er sie noch nie getragen hat. Trumps Behauptung, schon vor Kriegsbeginn gegen eine militärische Intervention im Irak gewesen zu sein, bleibt nebenbei nur das: eine Behauptung. Zwar beeilte sich Augstein, nach einem Shitstorm mittlerer Windstärke auf Facebook zu betonen, dass er seine Kolumne nicht als Wahlempfehlung verstanden wissen wollte. Doch aus der Feder eines glühenden Anti-Interventionisten (oder ist Augstein sogar Pazifist? Ich wüsste es gerne), der die USA vor allem an ihrer Außenpolitik zu messen scheint, liest sich das nicht sehr überzeugend. Kein Wort über Trumps Äußerungen zum Iran-Deal, seine ideelle Nähe zu Putins Russland, seine Abneigung gegen die NATO, seine öffentlichen Überlegungen, Atombomben einzusetzen – denn wozu sonst wären Bomben da, sinnierte Trump. Clinton mag außenpolitisch ein Falke sein. Aber Trump ist ein in wilden Spiralen abstürzender fleischfressender Flugsaurier, eine erratisch tickende Zeitbombe. Und festzuhalten bleibt, dass Augstein diese kurz vor der Wahl als bessere Option für den Frieden bezeichnet hat. Damit drängt sich die Frage auf, wie ernst er es eigentlich mit den Werten meint, die er sonst hochhält.
Unter diesen Werten finden sich „Liberalismus, Toleranz und Gleichberechtigung“. Wenn es beispielsweise darum geht, den Rechtsruck in Polen oder Ungarn zu verurteilen, und damit die Abkehr von eben diesen Werten, dann ist Augsteins Kritik messerscharf und auf den Punkt. Doch wenn Angela Merkel nach der US-Wahl Trump an die fundamentalen Werte deutsch-amerikanischer Zusammenarbeit erinnern will – „Demokratie, Freiheit, Respekt vor dem Recht und der Würde des Menschen, unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Religion, Geschlecht, sexueller Orientierung oder politischer Einstellung“ – dann findet Augstein das „gaga“ und „total grotesk.“ Er fügt hinzu: „Das Beste wäre gewesen, Merkel hätte gar nichts gesagt.“ Die deutsche Kanzlerin tritt vor laufenden Kameras also für exakt jene liberalen Werte ein, für die auch Augstein vorgibt, zu kämpfen. Doch da sie die deutsche Kanzlerin ist, kanzelt Augstein ihren Aufruf als töricht ab. So klingt die Peitsche der Moralmasochisten. Was sich im ersten Moment ein wenig nach Doppeldenk anhört, ist in Wahrheit die absolut schlüssige Logik der Berufsselbstgeißler: Aus Merkels Mund sind Aussagen über Werte per se unglaubwürdig, denn sie ist eine Vertreterin westlicher Macht. Und wer ist der größte Totengräber der westlichen Werte? Der Westen selbst. Seinen politischen Führern sind sie doch längst nur noch Lippenbekenntnisse wert.
Für die Moralmasochisten ist die Herkunft des Überbringers der Nachricht von größter Wichtigkeit. Geht es nach ihnen, können Vertreter westlicher Macht – Politiker, Unternehmer, Millionäre – nie glaubwürdig für moralische Ideale einstehen. Das bleibt den Unterdrückten und Ausgegrenzten vorbehalten. Auf der anderen Seite ist es der westliche Gesellschaftskritiker, dessen Wort das größte Gewicht hat, wenn es darum geht, die Verfehlungen des Westens anzuprangern. Während also die Schwachen die Fackel universeller Werte hochhalten dürfen, ist es den Starken lediglich gegeben, am westlichen Selbstbewusstsein zu zündeln. Wer gegen dieses ungeschriebene Gesetz aufbegehrt, bekommt die Verachtung des Moralmasochisten zu spüren. Gut zu beobachten ist das im Fall Augstein immer dann, wenn er auf jene liberalen Muslime trifft, die für eine Reform, beziehungsweise eine Aufklärung des islamischen Glaubens eintreten. Die Erfahrungen, Einsichten und Expertise einer Necla Kelek oder eines Hamed Abdel-Samad wischt Augstein im TV-Talk „Unter den Linden“ mit einem verächtlichen „Ja, da haben Sie ja genau die Richtigen erwähnt, ne?“ beiseite. Warum? Weil Kelek und Abdel-Samad den Islam einer kritischen, schonungslosen Prüfung unterziehen, weil sie das Problem des Islamismus auch als hausgemacht sehen. Doch das widerspricht der allgemein linken soziologischen Lesart, welche die Operanden Kultur, Religion und Ideologie aus der Gleichung komplett herauskürzt und im Islamismus nur ein, so Augstein, „soziales Problem“ sieht: „Ich bin ja so ein langweiliger Linker, ich glaube ja immer das [Problem] liegt daran, wie es den Leuten geht. Das geht so von außen nach innen, und nicht von innen nach außen.“ Damit ist der Islamismus nur noch eine Art soziopolitisch bedingter Reflex. Individuelle Verantwortung, selbstbestimmtes Denken und Handeln haben in diesem Erklärmodell ausgeschissen. Für den Moralmasochisten ist das ein Geschenk: Schuld am Hass auf den Westen ist jetzt allein der Westen. Er allein agiert, während die islamische Welt nur in der ihr zuerkannten Rolle reagiert, der des rachsüchtigen Opfers. Merke: der Orientalismus von heute kommt von links.

Nicht Augsteins kind of muslim. V.l.n.r.: Hamed Abdel-Samad, Necla Kelek, Ahmad Mansour, Mina Ahadi
Ist es unfair, Augstein als Orientalisten zu bezeichnen? Schon möglich. Aber sein persönliches Islambild, das er in einem Gespräch mit dem Psychologen Ahmad Mansour preisgibt, weist in eben genau diese Richtung. Augstein fragt: „Ist der Islam nicht ein bisschen die Religion der Underdogs? Also die Religion, die, um ein großes Wort zu benutzen, ein sozialrevolutionäres Potential hat?“ Klingt schon fast wehmütig. Kann man ein verklärteres Bild vom Islam der Gegenwart zeichnen? Im Gespräch mit Mansour ging es wohlgemerkt um die Radikalisierung junger Muslime. Zwar bezeichnet Augstein Islamisten und Dschihadisten nicht direkt als Sozialrevolutionäre, doch seine romantisierende Darstellung lässt dann doch ein wenig rebellischen Abglanz auf sie herab rieseln. Aber diese Rechnung ist einfach, viel zu einfach. Die islamische Welt steht seit langer Zeit auf der Verliererseite der Geschichte, der Westen auf der Gewinnerseite – getragen von Aufklärung, technischem Fortschritt und dem Siegeszug des von Augstein bei jeder Gelegenheit dämonisierten Kapitalismus. Haftet somit nicht jeder gegen den Westen gerichteten ideologischen Bewegung – auch dem Islamismus – das edle Motiv des Gerechtigkeitskämpfers an? Ist man nicht immer ein bisschen für die Underdogs? Aber wieder gewinnt man den Eindruck, dass Augstein es mit Werten am Ende nicht ganz so ernst meint. Denn „Liberalismus, Toleranz und Gleichberechtigung“ wird das dem politischen Islam innewohnende „sozialrevolutionäre Potential“ mit Blick auf die Realität eher nicht freisetzen. Aber Scham ist ein starkes Gefühl, und der Moralmasochist schämt sich für das Privileg, im Westen aufgewachsen zu sein. Er fühlt sich schuldig, Elend, Krieg und Tyrannei nicht am eigenen Leib erfahren zu haben. Klammheimlich fiebert er ein bisschen mit jenen Kräften mit, die sich das Ende des Westens hochoffiziell auf die Fahne geschrieben haben.
Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es diese verdruckste Schadenfreude war, die Augsteins apokalyptische Weissagungen nach der Wahl Trumps durchströmte. Das ist natürlich frei interpretiert, aber ohne diese Interpretation ergibt Augstein für mich einfach überhaupt keinen Sinn. Das eine Standbein des Moralmasochisten ist das Bestehen auf die eigene Schuld am Bösen in der Welt. Das andere ist das Verweigern eines konstruktiven Dialogs. Aber wie wäre es zur Abwechslung hiermit: Welche positiven Lehren ziehen wir aus der Geschichte des Westens? Gibt es Dinge, die wir feiern können? Was können wir in Zukunft ändern, ohne die Welt komplett einzureißen? Was ist die Vision? Wenn ich Augstein lese und höre, vermisse ich diese positive Grundhaltung. Das klingt vielleicht naiv. Aber Schuldneurosen und Selbsthass sind nun mal keine produktiven Kräfte (abgesehen davon sind sie, die Geschichte des Westens betreffend, etwas überansprucht worden, aber das würde den Rahmen dieses Textes sprengen). Mag sein, dass dieses Schuldgesuhle in einer chaotisch wirkenden Welt dem eigenen Gewissen etwas Abkühlung verschafft. Aber was weiter? Das Versinken in Selbstbezogenheit und Apathie ist keine Option. Augstein und die Riege der Moralmasochisten sind bei aller aggressiv zur Schau gestellten Systemkritik zahnlose Tiger. Der britische Journalist Nick Cohen erzählt in einem Interview davon, dass die Wohnzimmerregale einiger der reichsten Londoner Bürger, bei denen er zu Gast war, vollgestellt sind mit Büchern Noam Chomskys. Jene Menschen also, die am meisten vom gegenwärtigen System profitieren, lesen ausgerechnet den Mann, der das gegenwärtige System am heftigsten kritisiert. Warum, fragt sich Cohen. Weil selbst die vernichtendste Kritik ohne ein positives Gegenprogramm im Angebot nicht die geringste Bedrohung für den Status quo darstellt.

Postfaktisch ist das neue postmodern.
Zurück zum Ausgangspunkt des Textes. Warum bin ich froh, in Tagen wie diesen kein Linker zu sein? Als ich nach Trumps Wahlsieg wieder in die etwas grauer und kälter gewordene Realität zurückgefunden hatte, tat ich erst einmal folgendes: Ich suchte im Netz nach Stimmen, die ich in der Vergangenheit ihrer Vernunft, Klarsicht und Menschlichkeit wegen zu schätzen gelernt hatte. Ich wollte wissen, wie sie die anstehende Präsidentschaft Donald Trumps einordneten. Ich wollte für den ersten Moment ein bisschen beruhigt und getröstet werden. Aber vor allem wollte ich Mut zugesprochen bekommen. Ich wollte, dass sich die nach dem 8. November breitgemachte Schockstarre auflöste, und sich so etwas wie eine trotzige, renitente Zuversicht mit Blick auf die kommenden vier Jahre einstellte. Ohne dabei angelogen oder die Realität schöngeredet zu bekommen. Ohne dem allgemeinen Normalisierungswahn der Präsidentschaft Trumps zu verfallen. Und der Plan ging auf, ich wurde fündig. Da gab es kritische Selbsthinterfragung, Rezeptvorschläge für die Zukunft, grimmige Aufbruchsstimmung. Angerührt von sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten: Sam Harris etwa, der als Rassist und Islamhasser verschrien wird. Nick Cohen, der von der britischen Linken, deren Kämpfe er mitgefochten hat, wie ein Aussätziger behandelt wird. Oder Maajid Nawaz, der Islamreformer, der von links als „native informant“ und Hassprediger diskreditiert wird. Aber was wäre, wenn Augstein, wenn Chomsky die Stimmen meiner Wahl gewesen wären? Ich denke, ich hätte mich verkriechen oder erschießen müssen. Nein, die Wahl Trumps muss nicht das Ende des Westens bedeuten. Der Moralmasochismus muss es auch nicht. Aber beide dürfen sich Chancen ausrechnen.