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Kategorie: Allgemein

Land unter – Warum Russland keinen guten Freund abgibt

Russland als Underdog, Putin als Posterboy. Das Verhältnis vieler junger Europäer zur wiedererstarkten Großmacht hat sich positiv gewandelt. Eine schlechte Entwicklung. Betrachtungen eines Halbrussen.

1. From Zero to Hero

jelzin

Borin Jelzin in einem klaren Moment.

Wann genau eigentlich ist Russland sexy geworden? Allzu lange her kann es nicht gewesen sein. Meine erste politische Erinnerung an Russland sind die TV-Bilder des aufgedunsenen Gesichts seines ersten demokratisch gewählten Präsidenten, Boris Jelzin. Das Stehen fiel ihm schwer, den Blick konnte er kaum geradeaus halten. Das Staatsoberhaupt von 140 Millionen Russen war sternhagelvoll, und die ganze Welt war Zeuge, wie Jelzin sich und ein ganzes Land der Lächerlichkeit preisgab. Bis heute empfinden viele Russen die Amtszeit dieses Präsidenten als Schmach, und ihre Sehnsucht nach einem starken Mann an der Spitze hat wohl nicht unwesentlich mit Jelzins katastrophaler Außenwirkung zu tun. Vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion besetzte Russland in den Köpfen der Bürger der freien Welt die Rolle des Reichs der Finsternis im messianischen Kampf zwischen Gut und Böse. Bis auf ein paar scharfe Spioninnen in Agentenfilmen, der puerilen Fantasie anglo-amerikanischer Drehbuchautoren entsprungen, also auch in dieser Phase nur geringe Ausschläge auf der Sexiness-Skala. Und davor, als die Deutschen unter dem Hakenkreuz noch jene Rolle inne hatten, die ihnen später die Kommunisten abnehmen sollten, blickte man hierzulande mit blanker Verachtung auf die slawischen Untermenschen im Osten.

Doch die Zeiten haben sich geändert. Vergessen ist Gorbatschow, die Schlafmütze, die sich vom Weltgeist übertölpeln ließ und dem sowjetischen Imperium von heute auf morgen das Licht ausknipste. Vergessen sein nur noch peinlicher, über alle Maßen korrupter Nachfolger Jelzin – das Geschenk freier, nach westlichem Vorbild abgehaltener Wahlen an das russische Volk. Russland ist heute wieder wer. Russland ist stark, smart und irgendwie alternativ. Wer gegenwärtig als öffentliche Person für die Seite Russlands Partei ergreift, schwimmt gegen den Strom der Mainstreammeinungsmacher. Der erhabene Schein des mutigen, erleuchteten Kontrariers umgibt ihn. Da ist jemand mit Durchblick, der die Dinge ohne Angst beim Namen nennt. Das kommt bei einem erstaunlich breiten Publikum unterschiedlichster politischen Couleur hervorragend an. Nominell linke Pazifisten sind genauso darunter wie rechte Hardliner. Da sind all jene, die das hohle PR-Gewäsch ihrer gewählten Politiker nicht mehr hören können. Die es satt haben, sich von einer unsichtbaren Armee waschlappiger EU-Lobbyisten die Politik diktieren zu lassen. Die sich nach Alternativen zum ungeliebten politischen und kulturellen Fixstern USA umsehen. Die dem unter der Flagge des Liberalismus um sich greifenden Werteverfall Einhalt gebieten und eine traditionelle, heimatverbundene oder auch christlich geprägte Nationalidentität stärken wollen. Und nicht unerwähnt bleiben sollen auch die etwas durchgeknallteren Politapokalyptiker, die von ihren Laptops aus den Kampf gegen die Neue Weltordnung (NWO) aufgenommen haben, und in Putin dabei ihren mächtigsten Verbündeten sehen. Sie alle nicken eifrig, wenn eine Sahra Wagenknecht, ein Jürgen Todenhöfer, ein Michael Lüders zum Rundumschlag gegen verfehlte westliche Politik ausholen, und zu einer sachlichen – das heißt bei ihnen: positiven – Neubewertung des deutsch-russischen Verhältnisses anraten. Und an dieser Stelle schiebt sich mein Migrationshintergrund, der sonst keine Rolle in meinem Leben spielt, in den Vordergrund und sagt „njet“.

Meine Mutter ist Russin, mein Vater Deutscher, ich bin in Deutschland geboren (in Potsdam, vor dem Mauerfall). Weder zu meiner ostdeutschen noch zu meiner westdeutschen Schulzeit gab mein Halbrussentum großen Anlass zu interessierter Nachfragerei. Meistens war es nicht einmal einen dummen Spruch wert. Einmal seiherte ein älterer Schüler irgendeinen Mist über Tschernobyl daher, um mich zu beleidigen. Ich fühlte mich gekränkt, hätte allerdings damals schon wissen können, dass Tschernobyl in der Ukraine und nicht in Russland liegt. Jedenfalls war Russland innerhalb meiner Peergroup weder exotisch noch relevant genug, um ein gesteigertes Interesse am Land zu rechtfertigen. Mir ging es schließlich auch nicht anders. Wir schauten Star Wars, hörten Nirvana, spielten Super Nintendo und Playstation, stopften Burger und Pizza in uns hinein. Unsere Jugend ließen wir uns von Italien, Japan und den USA prägen, Deutschlands neuformierten Achsenmächten (reine Kulturachse, wohlgemerkt). Das Feindbild Russland existierte nicht mehr, es war mit der Wiedervereinigung einfach verschwunden. Wir Jungen hatten davon sowieso nicht mehr wirklich etwas mitbekommen, in der DDR schon mal gar nicht. Und die Älteren wunderten sich über den desolaten Zustand dieses riesigen Landes, vor dem man sich so lange fürchtete, wie der eiserne Vorhang noch die Sicht darauf versperrte.

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Russlandreise 2006. Kann man machen.

Ich war nicht oft in Russland. Ich kann nicht sagen, dass ich Land und Leute wirklich kenne (meine Mutter einmal ausgenommen). Aber ich habe einen echten Bezug zu dem Land. Die wenigen Reisen nach Russland waren zwar nicht unbedingt persönliche Erweckungserlebnisse, aber ich habe sie gern unternommen. Ich mochte die nassgrauen Landschaften, die abscheulichen Städte und die miesgelaunten Menschen in Moskau und jenseits des Urals. Russlands Trostlosigkeit spricht mich auf irgendeiner seltsamen Ebene an. Ich mag meine russische Verwandtschaft, auch wenn ich sie kaum kenne. Ich schätze ihre menschliche Wärme, ihre Großzügigkeit, ihre Bescheidenheit. Ich hatte drei Onkel, mit denen ich nie ein echtes Gespräch führte, weil ich kein Russisch und sie kein Deutsch konnten. Alle hatten ein Alkoholproblem. Einer von ihnen erfror bewusstlos-berauscht im Schnee, der andere verbrannte wahrscheinlich in ähnlichem Bewusstseinszustand in seinem Gartenhäuschen, den dritten raffte eine Leberzirrhose dahin. Wenn ich an Sascha, Tolja und Wowa denke, die drei toten Brüder meiner Mutter, zieht sich mein Herz zusammen und ich fühle mich ihnen nah, obwohl ich es nie wirklich war. Da ist der Klang der russischen Sprache, vor allem in Liedern oder Gedichten, der mein Hirn in einen sanften nostalgischen Rausch versetzt. Ich liebe die russische Küche. Wenn ich Tolstoi lese, Tschaikowski höre und Tarkowski schaue, dann glaube ich, sie zu verstehen. Was ich sagen will ist: Ich habe kein emotionales Problem mit Russland. Im Gegenteil. Wenn es so etwas wie eine russische Seele gibt, dann ist sie auch ein Teil von mir.

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Keine Satire: Posterboy Putin

Nun hat sich allerdings, wie eingangs beschrieben, in einer der merkwürdigsten Entwicklungen der letzten 20 Jahre die Einstellung vieler Deutscher zu Russland gewandelt. Russland lässt sich heute weder belächeln, noch lässt es sich ignorieren. Ermöglicht haben diese unwahrscheinliche Entwicklung ein großes Ding und ein kleiner Mann: das Internet und Wladimir Wladimirowitsch Putin. Nun hat das Internet ja schon vieles möglich gemacht, was vorher niemand für möglich gehalten hätte: Pastafaris, Filthy Frank und Schlumpfpornos, um ein paar harmlose Beispiele zu nennen. Dass aber ausgerechnet eine Gestalt wie Putin sich aufschwingen konnte zu einer Identifikationsfigur vieler junger Westeuropäer, zu einer modernen Neuinterpretation des großen Staatsmannes, ist in der Tat mehr als nur merkwürdig. Man möchte jenen Kulturpessimisten Recht geben, die im Internet nicht nur das Tor in ein verheißungsvolles, neues Kapitel Menschheitsgeschichte sehen. Das Internet, so warnen sie schon lange, funktioniere auch in eine andere Richtung: als Fahrstuhl zum Schafott, wo Fakten, Vernunft und Wahrheit vor den Augen einer johlenden Menge dem Henker vorgeführt werden. Aber Fortschritt und Wahrheit gehen Hand in Hand, ganz gleich auf welchem Gebiet. Der Aufstieg Putins – weniger auf politischer als auf medialer Ebene – steht ganz im Zeichens Peter Pomerantsevs beunruhigender Zeitgeistdiagnose: Nichts ist wahr und alles ist möglich.

2. Bild und Wahrheit

Getragen wird der neue positiv besetzte Wille zur Identifikation mit Putins Russland (auftretend in den Abstufungen Respekt – Bewunderung – Begeisterung) nicht von den üblichen Verdächtigen: nostalgischen Altsozialisten aus den neuen Bundesländern etwa, die meinen, ihre FDJ-Jugend nur über eine verklärende Russophilie in guter Erinnerung behalten zu können. Auch nicht von der politisch-akademischen Linken, deren ideologische Loyalität zum politischen Nachfolger der Sowjetunion, wie immer es auch geartet sei, fast ein Naturgesetz zu sein scheint. Nein, es sind vor allem junge Menschen, ohne ideologische Altlasten, politisch und gesellschaftlich interessiert, die ihre Verbundenheit zu Russland entdeckt haben. Ich sehe sie täglich auf meinem Facebook-Feed. Menschen mit einer aufgeklärten, liberalen Weltanschauung, denen Persönlichkeitsrechte, freie Meinungsäußerung und freie Medien wichtig sind. Für die Homosexualität selbstverständlich und die Kriminalisierung von Cannabis unverständlich ist. Sie sorgen sich über die wachsende Schere zwischen arm und reich, die sozial zersetzenden Kräfte eines entfesselten Materialismus, den Missbrauch von Staatsgewalt und Rassismus. Tier- und Umweltschutz sind ihnen wichtig. Viele von ihnen sind Feministen, Pazifisten, Atheisten.

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Eingang zu einem Markt in Russland, 2006.

Es scheint keine Rolle zu spielen, dass jener eben aufgezählte Wertekatalog in tatsächlich jedem einzelnen Punkt Putins politischem Kurs komplett entgegensteht. Und besonders irritierend ist der Umstand, dass wohl kaum einer dieser Menschen, die aus irgendeinem Grund eine Identifikation mit dem heutigen Russland suchen, je Kontakt mit Russland hatte. Wobei das nur bloße Behauptung ist – aber Russland stand als Ziel schulischer Austauschprogramme, Auslandssemester und Urlaubsreisen bei den Deutschen seit der Wiedervereinigung noch nie sonderlich hoch im Kurs. Auch auf (pop)kultureller Ebene gibt es so gut wie keine Berührungspunkte, sieht man von Wodkamischgetränken einmal ab. Die jungen Deutschen hören keine russischen Bands, schauen keine russischen Filme, nutzen keine russischen Produkte, bejubeln keine russischen Sportler, und gehen nicht russisch essen. Sie kennen Russland nur aus den Nachrichten, aus Talkshows und aus dem Internet, also von dort, wo Russland fast ausschließlich als politisches Gebilde in Erscheinung tritt. Sie scheinen ihr Russlandfaible also politisch zu begründen. Ausgerechnet. Um es mit den Worten Theodens von Rohan zu sagen: Wie konnte es soweit kommen?

Um mit offenen Karten zu spielen: dieser Text will kein ausgewogenes Bild vom politischen Russland der Gegenwart zeichnen. Wenn Ausgewogenheit bedeutet, ein symmetrisches Verhältnis gegenläufiger Sichtweisen zu einem Thema herzustellen, dann ist mir das im Hinblick auf Putins Russland auch einfach nicht möglich. Hier geht es im Folgenden darum, Putins Russland als Objekt politischer oder ideologischer Sympathie zu dekonstruieren und zu disqualifizieren. Von seiten der sogenannten Putinversteher wird ja immer sehr schnell der Vorwurf laut, mit jeder Russlandkritik alte Feindbilder aufbauen zu wollen, die heute vollkommen unzeitgemäß und ideologisch verbrämt seien. Ein „Feindbild aufbauen“ hieße jedoch, etwas zu konstruieren, das in Wirklichkeit gar nicht existiert. Aber das System Putin als Gegensatz zu all unseren Vorstellungen über gute Politik und richtige Werte ist kein „Bild“, keine Chimäre, sondern Realität. Und als solche muss es nicht konstruiert, sondern bloß erkannt und eingeordnet werden. Streiten ließe sich allerdings über den Begriff des „Feindes“. Dazu sei gesagt, dass alle Kritik in diesem Text nicht auf das russische Volk, sondern auf Russlands politisches System, seine Eliten und Nutznießer abzielt.

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Umweltschutz auf Russisch. Fluss nahe Norilsk, Sibirien, 2016.

Bemerkenswert am vielfach kolportierten Zerrbild des pragmatisch handelnden, missverstandenen Russlands ist ja, wie wenig es mit dem Russland der Realität zu tun hat (hier wird doch nicht etwa versucht, ein Freundbild aufzubauen?). Durch PR-Kampagnen staatlicher Sendeanstalten und der Apologetenarmeen im Internet gewinnt man den Eindruck, dass Russland ein von feindseligen Mächten in die Ecke gedrängtes Land sei, dass sich nur dank der Unbeugsamkeit und Willensstärke seiner politischen Führung allen Widrigkeiten zum Trotz seinen wohlverdienten Platz im internationalen Konzert der Großmächte Zug um Zug zurückerobern konnte. Doch welche Widrigkeiten sind das genau? Welche Teile Russlands sind besetzt? Welche internationalen Sanktionen haben die Entwicklung des Landes nach 1991 so nachhaltig gelähmt?

3. Die Legende vom Erwachen des Bären

Russland könnte ein reiches Land sein. Es verfügt über gewaltige Rohstoffreserven und ist der weltweit größte Förderer und Exporteur von Erdgas. In Ländern der Dritten Welt ist Ressourcenreichtum mehr Fluch als Segen. Doch Russland ist kein Drittweltland. Es ist industrialisiert, die Alphabetisierungsrate liegt bei fast 100 Prozent und seine Einwohner genießen einen hohen Bildungsstandard. Jedes Jahr produzieren russische Universitäten hochqualifizierte Nachwuchskräfte, viele von ihnen im Bereich der theoretischen und angewandten Wissenschaften. Doch Innovation: Fehlanzeige. Das einzige was Russland in großem Stil exportiert sind Rohstoffe und Waffen. Erfolgreichstes russisches Exportprodukt aller Zeiten ist ein in den 1940er Jahren entwickeltes automatisches Sturmgewehr: die Kalaschnikow. Zum Dank dekorierte man ihren Erfinder mit ein paar Orden, aber ließ ihn dann in relativer Armut sterben. Investitionen in die Infrastruktur des Landes finden nicht statt. Bis heute werden der Personen- und Güterverkehr in Russland über ein veraltetes, zum Großteil noch von den Zaren erbautes Eisenbahnnetz abgewickelt. Eine mehrspurige Autobahn, die beispielsweise St. Petersburg und Moskau verbinden würde, gibt es nicht. Von der Anbindung der Millionenstädte im tieferen Inland ganz zu schweigen. Das mittlere Vermögen in Russland betrug letztes Jahr 991 US Dollar, damit waren weit mehr als die Hälfte aller Russen deutlich ärmer als eine Mehrheit der Vietnamesen, Jemeniten oder Sri Lanker. Gleichzeitig gab es letztes Jahr 96 Milliardäre in Russland. Nur China und die USA zählten mehr (beides Länder mit einer ungleich höheren Einwohnerzahl und Wirtschaftskraft). Unter den Industrienationen der Welt ist Russland das Land mit der höchsten Wohlstandsungerechtigkeit. Insgesamt lag man auf Rang sieben der Länder mit der größten Vermögensungleichverteilung: Russland stand etwas besser da als ein illustrer Haufen bestehend aus Komoren, Surinam, Papua-Neuguinea, Sambia, Botswana und Namibia, aber schlechter als Haiti oder die Ukraine. 2011 verfügten die ärmsten 20 Prozent aller Russen nur noch über gut die Hälfte ihres Realeinkommens von 1991.

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Russische Oberschicht mit Boot.

Dennoch scheiden sich beim Thema Korruption die streitenden Russlandgeister. Für Regimefreunde ist Putin ein mit harten Bandagen kämpfender Staatsmann, der im Rahmen seiner Möglichkeiten der russischen Schattenwirtschaft den Kampf angesagt hat. Und mag Russland was Korruption und Intransparenz angeht im internationalen Vergleich immer noch schlecht dastehen, gemessen an den Zuständen, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion geherrscht haben, wurden wichtige Erfolge verbucht. Unter Putin, so heißt es, habe das russische Volk endlich Anteil an der Verwertung seiner natürlichen Reichtümer. Geschenkt, dass die Zahlen über die Einkommensungerechtigkeit und ihre Entwicklung eine deutlich andere Sprache sprechen. Geschenkt, dass Transparency International Russland 2016 auf Rang 131 von 176 führte, hinter Honduras, Sierra Leone und Aserbaidschan, was einen Verlust von zehn Plätzen im Vergleich zum Ranking zehn Jahre zuvor bedeutet (bei 163 erfassten Ländern). Von den 25 Milliarden Dollar, die allein während der olympischen Winterspiele von Sotschi veruntreut wurden (den teuersten olympischen Spielen aller Zeiten), hätte man eine 2.500 km lange Autobahn bauen können, die St. Petersburg, über Moskau mit Jekaterinburg verbunden hätte. In jeden Kilometer der bilateralen Nord-Stream-Pipeline musste auf russischer Seite dreimal (!) so viel Geld hineingesteckt werden wie auf deutscher Seite. In einer Transparency-International-Umfrage von 2013 gaben 92 Prozent an, dass die Korruption im öffentlichen Sektor ein großes Problem sei, und 77 Prozent hielten die von ihrer Regierung ergriffenen Antikorruptionsmaßnahmen für ineffektiv bis sehr ineffektiv. Der durch Korruption verursachte Schaden für die russische Wirtschaft beträgt Schätzungen eines Moskauer Think Tanks (INDEM Foundation) zufolge jährlich zwischen 300 und 500 Milliarden Dollar, ungefähr ein Drittel der russischen Gesamtwirtschaftsleistung. Putin selbst unterhält fünf Yachten und hat sich am schwarzen Meer eine Residenz bauen lassen, die gemeinhin als „Putins Palast“ bekannt ist, und deren Wert auf etwa eine Milliarde Dollar geschätzt wird. Gelder, die unter anderem für Investitionen in das öffentliche Gesundheitssystem vorgesehen waren, aber illegal abgezweigt wurden – so funktioniert Umverteilung in Russland heute. Loyalität und Freundschaft zu Putin zahlen sich im wahrsten Sinne des Wortes aus. Die meisten seiner Wegbegleiter aus früheren Tagen sind heute Milliardäre oder Multimillionäre und bekleiden hohe Posten in den großen Staatsunternehmen. Wie es angesichts dieser Zustände in Russland überhaupt sein kann, dass der Name Putins in einigen Kreisen immer noch mit Korruptionsbekämpfung in Verbindung gebracht wird, ist zweifellos eines der größten ungelösten Rätsel der Neuzeit.

4. Kleiner Mann ganz groß

Den Beginn Putins politischer Karriere markiert seine Zeit als stellvertretender Bürgermeister in St. Petersburg. Untrennbar verbunden mit dieser Episode bleibt der Lebensmittelskandal Anfang der Neunzigerjahre. In der chaotischen Zeit nach der Auflösung des Sowjetregimes und dem kompletten Zusammenbruch der Wirtschaft kam es in vielen Teilen Russlands zu Nahrungsmittelengpässen. St. Petersburg war besonders betroffen. So schien es eine gute Idee zu sein, Bodenschätze wie Öl, dessen Wert pro Barrel auf dem heimischen Markt bei einem Dollar lag, international aber für 100 Dollar pro Barrel gehandelt wurde, gegen Nahrungsmittel aus dem Ausland einzutauschen. Als Leiter des städtischen Komitees für Außenbeziehungen erteilte Putin höchstpersönlich die Ausfuhrgenehmigungen (der Handel mit Rohstoffen stand komplett unter staatlicher Kontrolle) und besorgte den Papierkram für die Abfertigung beim Zoll. Rohstoffe im dreistelligen Millionenbereich verließen das Land. Blöd nur: Nahrungsmittel kamen keine an, das Geld versickerte. Hier kann man kurz innehalten. Die Bewohner St. Petersburgs wissen sehr genau, was Hunger ist. Doch ausgerechnet jener Mann, der stets betont, bei allem was er tut zuallererst die Interessen seines Volkes im Sinn zu haben, wirft bei der erstbesten Gelegenheit, sich und seine Clique auf Kosten der russischen Bevölkerung zu bereichern, alle patriotischen Gefühle über Bord. Der St. Petersburger Stadtrat schlussfolgerte nach einer Untersuchung der Vorfälle, dass Putin sich durch „totale Inkompetenz“ hervorgetan habe und sich den Vorwurf gefallen lassen müsse, Stadt und hungernde Bevölkerung arglistig getäuscht zu haben. Man empfahl, ihn seines Postens zu entheben, und dem Komitee, dem er vorstand, die Handelskompetenzen zu entziehen. Der St. Petersburger Bürgermeister Anatoli Sobtchak folgte dieser Empfehlung allerdings nicht und beließ Putin im Amt. Zum Dank verhalf Putin ihm später zur Flucht ins Ausland, als ihm selbst ein Korruptionsverfahren drohte. Eine Hand wäscht die andere. Putin ging nach Moskau und wurde Chef des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB. Dort ordnete er die Auflösung zweier Abteilungen an, die mit der Verfolgung von Wirtschaftskriminalität auf allerhöchster Ebene betraut waren. Präsident Jelzin wird es dankend registriert haben. Alle Untersuchungen gegen Putin die Vorfälle in St. Petersburg betreffend wurden eingestellt, als er sich 2000 seinen präsidentialen Impfschutz abholte.

Doch wie konnte dieser blasse Ex-KGBler, der öffentliche Auftritte scheute, und dessen Popularitätswerte im August 1999 noch bei zwei Prozent vor sich hindümpelten, in einer freien Präsidentschaftswahl bestehen? In das Amt des Ministerpräsidenten war er zuvor mit einer denkbar knappen Mehrheit von der Duma bestätigt worden. Und das obwohl Putin Jelzins Wunschnachfolger war und ihm die Unterstützung der sogenannten „Familie“ um den noch amtierenden, ebenfalls wegen Korruption massiv unter Druck stehenden Präsidenten sicher war. Es musste also dafür gesorgt werden, dass die Menschen wussten, wer dieser Wladimir Wladimirowitsch überhaupt war. Die dabei verfolgte PR-Strategie kann man als überaus erfolgreich bezeichnen, denn nach nur drei Monaten standen Putins Popularitätswerte plötzlich bei 45 Prozent. Was war passiert? Nun, passiert war etwas, das Putins Präsidentschaft für alle Ewigkeit wie ein Kainsmal anhaften soll.

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TV-Bilder der Überreste eines Moskauer Wohnhauses.

Während des Sommers 1999 explodierten fünf Bomben in Russland, drei davon rissen die schlafenden Bewohner mehrerer Wohnhäuser in den Tod, allesamt Zivilisten. Insgesamt kamen fast 300 Menschen ums Leben. In einem normalen Land würden nach solchen Anschlägen Ermittler, Forensiker und Sprengstoffexperten den Tatort überziehen und nach Beweisen suchen, um die Hintermänner der Tat auszumachen. Aber Russland ist kein normales Land. Also wurden jeweils am nächsten Tag Schutt und Trümmer und damit alle potenziellen Beweise mit schwerem Gerät abgetragen. Die Leichen der Opfer waren da noch nicht einmal geborgen. Aber wer braucht schon eine Untersuchung, wenn man das Ergebnis auch ohne haben kann. Die Tschetschenen wurden für die Anschläge verantwortlich gemacht, die russische Bevölkerung auf einen erneuten Einmarsch in die Teilrepublik eingeschworen. Doch es wird noch dubioser. Es gab eine sechste Bombe, die entschärft werden konnte. In Rjasan, einer 200 km südöstlich von Moskau gelegenen Stadt, verständigten Anwohner die Polizei, als sie zwei Männer und eine Frau dabei beobachteten, wie sie schwere Säcke aus einem Auto mit Moskauer Kennzeichen in ein Wohnhaus verluden. Als die örtlichen Einsatzkräfte eintrafen, fanden sie im Wohnhaus drei mit einer Substanz gefüllten Säcke, die mit einem Timer und einem Zünder verbunden waren. Ein Spezialkommando entschärfte den Sprengsatz. Auf später veröffentlichtem Fotomaterial war zu erkennen, dass die verbauten Teile die gleichen waren, die auch in der russischen Armee zum Einsatz kamen. Als die lokalen Behörden die verdächtigen Personen festnehmen wollten, konnte diese Ausweise des FSB, des russischen Inlandsgeheimdienstes, vorweisen. Sie wurden ohne Befragung gehen gelassen. Ein Mitarbeiter der örtlichen Telefonvermittlungsstelle verfolgte einen Anruf eines der drei Verdächtigen zurück nach Moskau, in die FSB-Zentrale. In diesem Gespräch wurden die drei Personen angewiesen, sich getrennt auf den Rückweg nach Moskau zu machen. Beim Sprengstoff der entschärften Bomben handelte es sich um Hexogen, ein Gemisch, das bei mindestens einem der vorangegangenen Anschläge zum Einsatz kam. Es war in Säcken mit der Aufschrift „Zucker“ abgefüllt. Nun mag Russland kein normales Land sein, aber Hexogen kann man auch dort nicht an jeder Straßenecke kaufen. Es wird auf einer abgeriegelten Militärbasis in Perm produziert und gelagert. Zwei Wehrdienstleistende, die dort eine Lagerhalle voller mit „Zucker“ beschrifteter 50-Kilo-Säcke bewachen sollten, machten ihren Vorgesetzten auf den bitteren Geschmack der Substanz aufmerksam, nachdem sie sich damit eine Teepause versüßen wollten. Die daraufhin veranlasste Laboranalyse ergab: Hexogen. Die zwei Rekruten wurden für das Preisgeben von Staatsgeheimnissen gerügt. Nach dem Zwischenfall von Rjasan machten die Regierung und der FSB widersprüchliche Angaben. Sprach man zuerst von einem erfolgreich abgewendeten Terroranschlag, behauptete der FSB einige Tage später, dass es sich lediglich um eine Zivilschutzübung gehandelt habe. Auch wollte der Moskauer FSB auf einmal gewusst haben, dass die Säcke tatsächlich nur mit Zucker gefüllt, und die Zünder nur Attrappen waren. Dieser Darstellung widersprachen die lokalen Behörden aber entschieden, woraufhin Moskau wieder zurückruderte, die Geschichte erneut änderte, und nun behauptete, dass es sich bei der Substanz um ein in Tschetschenien hergestelltes Sprengstoffgemisch gehandelt habe.

Die Vorfälle in Rjasan sollten Gegenstand einer parlamentarischen Untersuchung werden, doch zwei solcher Vorstöße wurden von der Duma blockiert. Mikhail Trepashkin, ein Anwalt, der eine unabhängige Untersuchung einleiten wollte, wurde wegen illegalen Waffenbesitzes verhaftet und musste für vier Jahre ins Gefängnis. Zwei von drei Parlamentariern, die ihn dabei unterstützten, Sergei Juschenkow und Juri Schtschekotschichin, starben 2003. Juschenkow wurde vor seiner Moskauer Wohnung erschossen, Schtschekotschichin starb in einem Moskauer Krankenhaus an den Folgen eines rätselhaften, heftigen Fiebers.

Die haarsträubendste Anekdote aus dieser filmreifen Politgroteske ist aber eine Äußerung des Duma-Abgeordneten Gennadiy Seleznyov, der eine Parlamentssitzung vom 13. September 1999 unterbrach, um die Anwesenden von einer furchtbaren Nachricht in Kenntnis zu setzen: auf ein Wohnhaus in Wolgodonsk wäre soeben ein Bombenanschlag verübt worden. Russland ist kein normales Land, und Seleznyov besaß offenbar die Gabe der Vorsehung, denn tatsächlich sollte eine Detonation in der Stadt Wolgodonsk achtzehn Menschen in den Tod reißen – aber drei Tage später, am 16. September. Als ein Duma-Abgeordneter Seleznyov zu diesem mysteriösen Vorfall befragen wollte, wurde ihm freundlich aber bestimmt das Mikrofon abgedreht.

Der einst öffentlichkeitsscheue Putin jedenfalls sprang über seinen Schatten, stellte sich vor die Kameras und kündigte an, die verantwortlichen Terroristen aufzuspüren, überall aufzuspüren, selbst auf dem Scheißhaus – seine Worte. Klingt wie Arnold Schwarzenegger in „Commando“, war aber der neue starke Mann an der Spitze des größten Landes der Erde. Der zweite Tschetschenienkrieg brach los. Die meisten Männer, die von offizieller Seite mit den Bombenanschlägen in Verbindung gebracht wurden, wurden entweder während des Krieges getötet oder in Geheimprozessen verurteilt. Nicht einer von ihnen war Tschetschene. Aber das war auch nicht mehr so wichtig, denn jeder wusste nun, wer Putin war. Am Ende des Jahres legte Jelzin sein Amt nieder und Putin übernahm vor der im nächsten Frühling anstehenden Wahl interimsmäßig die Geschäfte. Als einer seiner ersten Amtshandlungen sicherte er dem scheidenden Präsidenten Straffreiheit zu. Es lief wie geschmiert.

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Seltsame Hochburg der Putinwähler: das zerstörte Grosny.

Der polternde Terroristenschreck Putin kam mit seinen markigen Sprüchen bei der verunsicherten Bevölkerung besser an, als sein ursprünglich aussichtsreicherer und um eine friedliche Lösung bemühte Rivale Jewgeni Primakow. Doch letzterer verzichtete kurz vor der Wahl auf seine Kandidatur. Putin gewann mit einem Stimmanteil von nur 54,4 Prozent knapper als gedacht, sein engster Verfolger war der kommunistische Kandidat, der auf 29,5 Prozent der Stimmen kam. Dabei hatte das Putinlager in Sachen Wahlmanipulationen ganze Arbeit geleistet. 1,3 Millionen Wähler, die bei den Parlamentswahlen vier Monate zuvor nicht existierten, apparierten aus dem Nichts. Russland ist kein normales Land. Diese Geisterwähler stimmten vor allem in den entlegeneren, islamisch geprägten Teilrepubliken ab, deren Gouverneure Putin zuvor die Treue geschworen hatten. Und ausgerechnet in Tschetschenien, jener Region, die Putin in einer brutalen Zerstörungsorgie in Schutt und Asche legen ließ, soll er eines seiner besten Ergebnisse erzielt haben – Wahlbeobachter waren wegen des andauernden Krieges nicht direkt vor Ort. Aber ungeachtet dessen stellten sie ein auffälliges Muster fest: in jenen Regionen, in denen es die meisten Meldungen über Einschüchterungen, Irregularitäten und Manipulationen bei der Stimmabgabe gab, erhielt Putin im Vergleich zum Landesdurchschnitt einen deutlich höheren Stimmanteil (15 Prozent höher). Weitere 700.000 Stimmzettel sollen nach der Wahl einfach umetikettiert worden sein, die Moscow Times und die Rossiyskaya gazeta berichteten.

5. Leg dich nicht mit Putin an

Es klingt billig, aber es ist leider keine Übertreibung, Putins Aufstieg und die Zementierung seiner Macht mit dem Titel eines billigen B-Movies zu überschreiben: „Leichen pflastern seinen Weg“. Da sind die Opfer der Bombenanschlagsserie von 1999 – fast alle Zivilisten, vollkommen unbescholtene, nichtsahnende Bürger. Da sind die Opfer des zweiten Tschetschenienkrieges auf tschetschenischer und russischer Seite. Kritische Journalisten sind in Putins Russland ihres Lebens nicht sicher. Von der Kreml-kritischen Novaya gazeta allein wurden innerhalb von zehn Jahren sage und schreibe fünf Mitarbeiter ermordet. Gemessen an der Größe des Mitarbeiterstabs ist ein Job bei dieser Zeitung wahrscheinlich einer der gefährlichsten der Welt. Artem Borovik, der über die Anschlagsserie 1999 schrieb, starb beim Absturz einer Chartermaschine im Jahr 2000. Anatoli Levin-Utkin, der Putins St. Petersburger Zeit kritisch beleuchtete wurde 1998 vor seiner Wohnung zu Tode geprügelt. Sergei Magnitski, der als Anwalt gegen die Drahtzieher des größten Steuerbetrugs in der russischen Geschichte ermittelte, starb nach fast einjähriger Untersuchungshaft in seiner Zelle. Er wurde von seinen Wärtern zu Tode geprügelt (und war mehrfach gefoltert worden). Der russische Geschäftsmann Alexander Perepilichny der in der gleichen Sache geheime Finanzkanäle offenlegte, starb in Surrey, England, beim Joggen. Er war 44 Jahre alt und ohne gesundheitliche Beschwerden. Nikolai Gorokhov, ein dritter Anwalt, der im gleichen Fall vor einem Moskauer Gericht aussagen sollte, stürzte am 22. März 2017 aus dem Fenster seiner Wohnung im vierten Stock und erlitt schwere Verletzungen (zu dem Vorfall ist bislang keine Aussage Gorokhovs bekannt, er befindet sich noch im Krankenhaus). Alexander Litwinenko, früheres Mitglied eines Killerschwadrons des FSB, viel bei Putin in Ungnade, als er einen Mordbefehl verweigerte und daraufhin als Kremlkritiker an die Öffentlichkeit ging. Er wurde in London (!) mit Polonium vergiftet. Mit Polonium wurden vorher auch schon Roman Tsepow, früherer Vertrauter Putins und Leiter seines persönlichen Sicherheitsdienstes, der sein Blatt allerdings überspielt zu haben schien, und angeblich auch Anton Surikow, Militärexperte und Kremlkritiker („alle russischen Politiker sind Gangster aus St. Petersburg“), zur Strecke gebracht. Und schließlich ist da auch noch der Mord an Boris Nemzow, Putins ehemals schärfstem politischen Konkurrenten, der 2015 in Moskau auf offener Straße mit vier Schüssen aus nächster Nähe niedergestreckt wurde. Nemzow hätte zwei Tage darauf einen Protestmarsch oppositioneller Kräfte in Moskau anführen sollen. Er starb in 100 Metern Entfernung zum Kreml, dem wohl am strengsten überwachten Ort in ganz Russland. Doch von den zahlreichen Überwachungskameras gibt es keine Aufnahmen, die den Attentäter identifizieren könnten. Die Kameras in dem betroffenen Gebiet, so schrieb die Tageszeitung Kommersant, waren zur Tatzeit wegen Wartungsarbeiten nicht in Betrieb. Nur ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Nun lässt sich keines dieser zahlreichen, teils ungeheuerlichen Verbrechen – von der Anschlagsserie von 1999 bis hin zum Mord an Boris Nemzow – persönlich und direkt auf Putin zurückverfolgen. Da gibt es keinen signierten Mordbefehl, kein entlarvendes Foto, kein heimlich aufgezeichnetes Telefonat und kein Gerichtsurteil. Doch es bleiben die bodenlose Korruption, die Wahlmanipulationen, das schiere Ausmaß der gegen Systemkritiker gerichteten Einschüchterung und Gewalt im In- und Ausland, und nicht zuletzt die nicht von der Hand zu weisende Verwicklung des russischen Geheimdienstes in der heimtückischen Ermordung hunderter unschuldiger Zivilisten. Für die Beantwortung der Frage, ob das Putinregime unsere Sympathie verdient, ist es unerheblich, ob es Urheber oder nur Nutznießer dieser Verbrechen ist.

Verteidiger des Putinregimes machen für die fortschreitende Zementierung des russischen Unrechtsstaates lieber zwei andere Akteure verantwortlich. Die Oligarchen und die kriminelle Unterwelt. Ein paar Worte dazu. Putins Herrschaft lässt sich unter einem Thema zusammenfassen: die Konzentration politischer Macht auf seine Person und einen engen Kreis Verbündeter. Daraus wurde auch nie ein Geheimnis gemacht. Oligarchen, die sich dem absoluten Machtanspruch Putins nicht beugten, räumte das Regime konsequent aus dem Weg. Selbst jemand wie Boris Berezovsky, einst der mächtigste Oligarch in Russland und einflussreicher Wegbereiter Putins auf dem Weg zu Macht, bekam das zu spüren, als es nach der Amtsübernahme Putins zu Meinungsverschiedenheiten kam. Berezovsky ging ins englische Exil, und starb dort nach einem verlorenen Prozess gegen Roman Abramowitsch, dem neuen Oligarchendarling. Als der frischgekürte Präsident Putin gefragt wurde, was sich im Vergleich zu seiner Zeit als FSB-Chef geändert habe, hob Putin hervor: „Hier kontrolliert mich keiner. Ich kontrolliere jeden.“ Im Wiederaufbau eines „starken Staats“ sah Putin seine Hauptaufgabe als Oberhaupt des russischen Volkes. „Je stärker der Staat, desto freier das Individuum,“ lautete seine Doppeldenk-Devise. Nur dass kein Zweifel aufkommt: Putin bestimmt, wohin es mit Russland geht, und das seit seinem von Skandalen und Manipulationen durchzogenen Gewinn der Präsidentschaftswahl von 2000.

Der Einfluss der Mafia ist in Russland ohne Zweifel immer noch groß. Doch das Bild einer russischen Regierung, die dem Treiben der veschiedenen Clans nur mehr oder minder hilflos zusehen kann, ist so nicht richtig. Putins Zirkel ist seit seinen St. Petersburger Tagen eng mit der kriminellen Unterwelt verbandelt. Als stellvertretender Bürgermeister in St. Petersburg sorgte Putin etwa dafür, dass die Kasinos der Stadt, die nach dem Inkrafttreten einer Gesetzesnovelle von 1991 illegal operierten, durch eine Spezialerlaubnis Putins weiterhin ohne Lizenz ihr Geschäft betreiben konnten. Die Personenschutzfirma Baltik Eskort, die Putin zu seinem persönlichen Sicherheitsdienst aufbaute, zu deren Geschäftsbereich aber auch Bargeldtransporte für illegale Geschäfte gehörten, beschäftigte waschechte Mafiosi und stand immer wieder in Kontakt zu Größen der russischen Unterwelt. In einem illegal mitgeschnittenen Gespräch zwischen dem kremltreuen ukrainischen Ex-Präsidenten Leonid Kuchma und seinem Geheimdienstchef von 2000 wird auch über Putins Verbindung zu Semion Mogilevich gesprochen – dem capo dei capi, Boss der Bosse der russischen Mafia: Er und Putin würden „sich gut verstehen“ und stünden seit Putins St. Petersburger Zeit in Kontakt. Andere Mafiabosse wie etwa Gennadi Petrow oder Alexander Malyshev durften als Mitglieder einer offiziellen Kulturdelegation des St. Petersburger Weiße Nächte Festivals unbehelligt durch Europa reisen – Putin sei Dank. Und als Interpol 1999 einen russischen Mafiaboss im spanischen Sotogrande observierte, hielt man es es für angebracht, die spanische Regierung darüber zu informieren, dass sich dieser im Garten seiner Villa mit dem Megaoligarchen Beresowski und niemand anderem als Wladimir Putin unterhielt.

6. Falsche Freunde

Es ist nur schwer nachvollziehbar, dass das Image Putins trotz all dieser Verwicklungen, Skandale und Verbrechen in manchen Kreisen kaum einen Kratzer davonzutragen scheint. Sämtliche Informationen in diesem Text sind Büchern (siehe unten) und Zeitungsartikeln entnommen, die jedem frei zugänglich sind. Sie wurden nicht in entlegenen Aluhut-Unterforen des Internets aufgelesen, sondern von seriösen Experten, Journalisten und Oppositionellen zusammengetragen. Vieles davon ist auf den Seiten der Wikipedia nachzulesen, obwohl dort jeder Änderungen an Einträgen vornehmen kann – was um so erstaunlicher ist, weiß man doch um das emsige Wirken einer berüchtigten, im Auftrag des Kremls agierenden Online-Armee. Doch es ist die schiere Flut an Desinformation, die zu einer Art Überforderung führt, wenn es darum geht Fakten, Nachrichten und Berichte nach ihrem Wahrheitsgehalt zu sortieren. Das gleiche Phänomen konnte man während des amerikanischen Wahlkampfes beobachten, als Trump und sein Team sich eine Ungeheuerlichkeit nach der anderen erlaubten. Aber noch bevor der letzte Skandal abebben konnte, machten schon wieder neue Schlagzeilen die Runde. Trumps Kampagne schadete das letztlich kaum, Kritik und Empörung perlten an ihm ab. Erreicht wurde dies durch eine inflationäre Übersättigung der medialen Landschaft mit Skandalstories und einer gezielten Streuung von Desinformationen seitens seines Wahlkampfteams und Legionen von Social-Media-Trollen.

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Frieden ja, aber muss es denn Liebe sein? Verbreitetes Logo der Russlandfreunde.

Vielen Menschen scheint der Umstand zu genügen, dass Putin anders ist. Anders als die oft blassen und realitätsfernen politischen Eliten des Westens, die nur noch eine reine Klientelpolitik betreiben, anstatt die Sorgen ihrer Bürger und die drängenden Probleme unserer Zeit ernstzunehmen. Putin auf der anderen Seite verkörpert den knallharten Politiker. Er ist jemand, der aufräumt, jemand, vor dem man sich fürchten kann. Die Sehnsucht nach einem Politikertyp dieser Art sollte einem Angst und Bange machen. Putin scheint eine Projektionsfläche zu sein für die Sehnsucht vieler junger Europäer nach einer Alternative zum Politikestablishment und zur Hegemonie der USA. Letzterer Punkt ist kaum zu überschätzen. Es ist doch interessant, dass wenn es darum geht, nationale Besonderheiten und Entwicklungen bestimmter Länder positiv hervorzuheben, die wiederum als Vorbild oder Inspiration für andere dienen können, von Russland nie die Rede ist. Amerikanischer Traum, französisches Savoir-vivre, deutsche Effizienz, japanische Innovation – russischer… russisches… russische Schwermütigkeit? Von Russland ist immer nur als Alternative zu XY die Rede. Kaum ein russlandthematischer Beitrag auf den Nachdenkseiten, bei Jung & Naiv oder KenFM kommt ohne Erwähnung der Doppelmoral des Westens oder eine Gegenüberstellung der beiden Weltmächte USA und Russland aus. Russland scheint nichts weiter als ein Platzhalter, ein leerer Gegenentwurf zu sein. Was es verkörpert ist zweitrangig, wichtig ist nur, dass es als unbequemer, resilienter, ewig unterschätzter Underdog dem übermächtigen, verhassten imperialen Satan eins auswischt. Selbst kluge, reflektierte Köpfe scheinen diesem Bild zu erliegen, wenn sie sich nicht durchringen können, für eine der beiden Seiten Partei zu ergreifen – ob gesellschaftlich, politisch oder moralisch. Beispielhaft dafür ist der Standpunkt des Zaunsitzers Richard David Precht, dem wohl bekanntesten öffentlichen Intellektuellen Deutschlands: „Dass Trump und Putin sich verstehen ist doch das beste was passieren kann“, oder „ich wünsche mir, dass Europa ein entspanntes Verhältnis gegenüber den USA und Russland hat“ und „Ist Putin eigentlich so schlimm? Mit Putin haben wir vergleichsweise Glück!“ Hier wird eine falsche moralische Äquivalenz hergestellt wo eigentlich ein Abgrund klafft.

Jörg Baberowski hat in seinem Buch „Verbrannte Erde“ der russischen Seele ein erschütterndes Zeugnis ausgestellt. Er schreibt:

Wer nichts anderes kennt als die Diktatur, entwickelt andere Bewertungsmaßstäbe als Menschen, die auf die verlorene Freiheit zurückblicken. Es gab nach dem Ende der Terrorherrschaft [Stalins] keine konkurrierende Deutungseliten mehr, keine Kirche als moralische Institution, keine Emigration mit Stimme, keine Erinnerung an die Zeit vor dem Kommunismus, kein Westfernsehen, keine „Brüder und Schwestern“ im Ausland und keine Besatzer, die man für Elend und Unterdrückung verantwortlich machen konnte. Es gab nichts als die Diktatur, weder in der Gegenwart noch in der Vergangenheit.

Seltsamerweise war es erst eine solche niederschmetternde Analyse, die mir eine echte Identifikation mit Russland wieder ermöglichte. Eine Identifikation mit den Leidtragenden des herrschenden Systems. Es ist mit Sicherheit falsch, Baberowski zu unterstellen, dass er Putin als Teil des von ihm beschriebenen Kontinuums aus Diktatur und Terrorherrschaft sieht. Und es wäre auch abwegig, Putin in die Nähe Stalins rücken zu wollen. Doch es gibt einen roten Faden: Tatsächlich kennen die Russen nichts anderes als Terror und Diktatur damals, Kleptokratie und Autokratie heute. Ungeachtet dessen gehen heute wieder Tausende in Russland auf die Straße, um gegen Putin zu demonstrieren. Es sind viele junge Menschen dabei, um die zwanzig, die wiederum nichts anderes kennen als Putins Russland. Sie haben etwas Besseres verdient. An alle, die behaupten, Freunde Russlands zu sein – es sind jene Menschen, die dieser Tage auf den Straßen Moskaus verhaftet werden, denen unsere uneingeschränkte Solidarität und Unterstützung gelten sollte. Nicht ihren Häschern.

Bücher zum Thema:
Karen Dawisha, Putin’s Kleptocracy
Peter Pomerantsev, Nichts ist wahr und alles ist möglich
Bill Browder, Red Notice: Wie ich Putins Staatsfeind Nr. 1 wurde

Der seltsame Fall des Jakob Augstein

Jakob Augstein ist Deutschlands linkes Gewissen. Dabei tragen seine Moralvorstellungen durchaus perverse Züge. Ein Versuch über die Irrwege des Linksseins.

Was bedeutet es eigentlich, links zu sein? Der Begriff ist schwammig und kaum mehr in der Lage, eine widerspruchsfreie Positionsbestimmung vorzunehmen. Ein Beispiel: Es ist ein lang gehegter Traum der Linken, feste Staatsgrenzen und das Nationalitätsprinzip zu überwinden. Geht es aber um den Handel von Waren und Dienstleistungen, können die Mauern zwischen verschiedenen Staaten nicht hoch genug sein. Und während die anarchistische Linke mit der Auflösung des Staatsapparats liebäugelt, würde die kommunistische und sozialistische Linke ihn gerne vergrößern. Sowohl was den Ausbau des Sozialstaats, als auch die behördliche Regulierung von Bildungs-, Wirtschafts- und Finanzwesen angeht. Würde man die anarchistische und sozialistische Linke also entlang eines politischen Spektrums verorten, müsste man je nach Themenfokus die seltsame Feststellung machen, dass die unisono als rechtshysterisch eingestufte amerikanische Tea-Party-Bewegung zwischen „anarchistisch“ und „sozialistisch“ ihr politisches Zuhause hat. Kann ja jetzt irgendwie nicht sein.

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Will the real linke lady please stand up?

Vielleicht ist es hilfreich, ein bisschen mehr Abstand von konkreten politischen Fragestellungen zu nehmen, und darüber nachzudenken, was die grundlegenden Prinzipien linken Denkens sind. Hier ein sehr grober Bestimmungsversuch in 40 Worten. Ein waschechter Linker sollte meiner Meinung nach den folgenden Aussagen ohne Zögern zustimmen können:
1) Das höchste Gut im Leben ist die Gerechtigkeit (gemeint ist jene Gerechtigkeit, die sich gut mit der Gleichheit versteht).
2) Die Schaffung einer gerechten Welt ist die Hauptaufgabe der Politik.
3) Zu viel Macht in den Händen weniger Menschen führt ins Verderben.
Ich persönlich habe immer größere Schwierigkeiten, mich als „links“ zu identifizieren, selbst wenn ich mit vielen linken Positionen sympathisiere. Das liegt vor allem an den ersten beiden Punkten, deren sozialutopische Komponente mir Angst macht. Ja, Gerechtigkeit ist ein Ideal, das jede Gesellschaft anstreben sollte, aber nicht um jeden Preis. Ja, Politiker sollten Ideale haben, aber sie sollten die Gesellschaft nicht als Modellbaukasten begreifen. Jedenfalls war ich in den Tagen und Wochen nach der amerikanischen Präsidentschaftswahl zum ersten Mal in meinem Leben wirklich heilfroh darüber, kein Linker zu sein. Ich möchte dieses Gefühl erklären, und zwar anhand der Person Jakob Augsteins, Deutschlands wohl prominentestem Linksvertreter (ohne politisches Mandat).

Jakob Augstein schreibt eine Kolumne („Im Zweifel links“) für den Spiegel, ist Herausgeber der Wochenzeitung Der Freitag und fetzt sich auf Phoenix regelmäßig mit dem stellvertretenden Bild-Chef Nikolaus Blome. Im Berliner Gorki-Theater führt er im Namen des radio eins und Freitag Salons regelmäßig Podiumsgespräche mit Menschen aus Politik und Gesellschaft, und auch er selbst ist immer wieder Gast in den TV-Talks der öffentlich-rechtlichen Sender. Wer sich nach dem Ende der amerikanischen Präsidentschaftswahl für die Meinung Augsteins zur Weltlage interessiert hat, konnte folgendes von ihm lesen oder hören: „Es ist das Ende dieser westlichen Form von Demokratie.“ „Wir stehen an der Schwelle zu einem autoritären Zeitalter.“ „Donald Trump ist kein Rechtspopulist, er ist ein Faschist.“ „Die Wahl Donald Trumps ist das Ende des Westens.“ „Es ist over, es ist vorbei.“

Schluck.

Aber wer will es Augstein verübeln, dass er so ein Schwarzmaler ist? Am Ende könnte er ja Recht behalten, wer weiß das schon. Es ist auch nicht dieser abgrundtiefe Pessimismus in seinen Aussagen, der mich so seltsam anwidert. Die Welt nach dem 8. November ist eine andere geworden. Der Untergang unserer Zivilisation mag ein noch immer sehr unwahrscheinliches Szenario sein, aber das ändert nichts daran, dass er mit Trumps anstehender Präsidentschaft um ein Vielfaches wahrscheinlicher geworden ist. Nur: Augsteins Pessimismus ist nicht aufrichtig. Er ist eine Pose. Das wird deutlich, wenn man einer Aussage wie „Die Wahl Donald Trumps ist das Ende des Westens“ folgende, von kurz vor der Wahl, gegenüberstellt: „Trump wäre in der Frage von Krieg und Frieden vermutlich die bessere Wahl als Clinton.“ Ah ja. Hm. Haben die Amerikaner per Stimmzettel das Ende des Westens eingeleitet und gleichzeitig in Sachen Friedenspolitik „die bessere Wahl“ getroffen? Beides, indem sie Trump zum Präsidenten gemacht haben? Wie geht das zusammen? Erstaunlich gut, vorausgesetzt man ist Moralmasochist.

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Jakob Augstein: smart, schön, gefährlich.

Exkurs: Psychogramm eines Moralmasochisten

Der Moralmasochismus ist ein Fetisch, dem man vor allem innerhalb des linken politischen Spektrums reicher westlicher Industrienationen begegnet. Seine Anhänger sehen in der westlichen Welt – dem Kulturkreis, dem sie entstammen – ein global agierendes Verbrechersyndikat, das in den Bereichen Täuschung, Unterdrückung und Ausbeutung tätig ist. Jeder vermeintliche zivilisatorische Vorsprung anderen Kulturkreisen gegenüber ist entweder gewaltsam erzwungen, oder eine ideologische Fabrikation, die den herrschenden Eliten der Festigung ihrer Macht dient. Der Moralmasochist durchschaut diese globalen Machtstrukturen. Nicht zuletzt deshalb, weil er als Westler einen privilegierten Zugang zu den Mechanismen der Macht und ihren Wissens- und Konsensmanufakturen genießt. In der Überzeugung, als Westler die Hauptverantwortung für alles Übel in der Welt zu tragen, gewinnt die systemische Kritik des Moralmasochisten einen ganz besonderen Glanz. Denn zeugt es nicht von charakterlicher Größe und selbstlosem Idealismus, von der Kanzel der Macht herab die eigene Scheinheiligkeit und Verkommenheit anzuprangern? Auch gewinnt seine Kritik an Glaubwürdigkeit und Brisanz: was lässt gefestigte Weltbilder eher ins Wanken geraten? Die Anklage des Unterdrückten gegen die Unterdrücker, oder die des Unterdrückers gegen sich selbst? Der Moralmasochist befindet sich in einer überaus bequemen Lage. Während der westliche Kulturkreis das Monopol der Macht innehat, verfügt er über die Deutungshoheit, Vergangenheit und Gegenwart moralisch zu bewerten. Er ist ein Kind des Systems, und daher kann nur er das System überzeugend entlarven. Das Mea culpa des Moralmasochisten ist kein Eingeständnis, es ist eine Einforderung. Niemand sonst soll vom Kuchen der Schuld ein Stück abhaben. Zum leeren Ritual verkommt diese Form der Selbstkritik in dem Moment, in dem sie sich dem Aufzeigen von Handlungsalternativen und politischen Gegenentwürfen verweigert. Die Kritik des Moralmasochisten nicht konstruktiv, sie ist nicht einmal destruktiv. Dazu fehlt ihr der echte Glaube an einen Wandel. Sie ist nichts weiter als zur Schau gestellter Selbstzweck. Die Moralmasochisten sind die linksintellektuelle Wiedergeburt der mittelalterlichen Flagellantenzüge.

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Die Flagellanten ziehen wieder um die Häuser.

Rekurs Jakob Augstein. Vor der Präsidentschaftswahl zu sagen, dass ein Sieg Trumps auf eine friedlichere Zukunft hoffen lassen würde, nur um dann nach seiner Wahl das Ende der westlichen Demokratie und die Wiedergeburt des Faschismus herbeizumenetekeln, ist selbstentlarvend. In Sachen Krieg und Frieden sei Trumps Weste, anders als die Clintons, sauber, lautete Augsteins lächerliches Argument. Doch Trump, der Reality-TV-Star und Immobilienmogul, hatte nie eine Position politischer Verantwortung inne. Seine Weste ist also nur deshalb sauber, weil er sie noch nie getragen hat. Trumps Behauptung, schon vor Kriegsbeginn gegen eine militärische Intervention im Irak gewesen zu sein, bleibt nebenbei nur das: eine Behauptung. Zwar beeilte sich Augstein, nach einem Shitstorm mittlerer Windstärke auf Facebook zu betonen, dass er seine Kolumne nicht als Wahlempfehlung verstanden wissen wollte. Doch aus der Feder eines glühenden Anti-Interventionisten (oder ist Augstein sogar Pazifist? Ich wüsste es gerne), der die USA vor allem an ihrer Außenpolitik zu messen scheint, liest sich das nicht sehr überzeugend. Kein Wort über Trumps Äußerungen zum Iran-Deal, seine ideelle Nähe zu Putins Russland, seine Abneigung gegen die NATO, seine öffentlichen Überlegungen, Atombomben einzusetzen – denn wozu sonst wären Bomben da, sinnierte Trump. Clinton mag außenpolitisch ein Falke sein. Aber Trump ist ein in wilden Spiralen abstürzender fleischfressender Flugsaurier, eine erratisch tickende Zeitbombe. Und festzuhalten bleibt, dass Augstein diese kurz vor der Wahl als bessere Option für den Frieden bezeichnet hat. Damit drängt sich die Frage auf, wie ernst er es eigentlich mit den Werten meint, die er sonst hochhält.

Unter diesen Werten finden sich „Liberalismus, Toleranz und Gleichberechtigung“. Wenn es beispielsweise darum geht, den Rechtsruck in Polen oder Ungarn zu verurteilen, und damit die Abkehr von eben diesen Werten, dann ist Augsteins Kritik messerscharf und auf den Punkt. Doch wenn Angela Merkel nach der US-Wahl Trump an die fundamentalen Werte deutsch-amerikanischer Zusammenarbeit erinnern will – „Demokratie, Freiheit, Respekt vor dem Recht und der Würde des Menschen, unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Religion, Geschlecht, sexueller Orientierung oder politischer Einstellung“ – dann findet Augstein das „gaga“ und „total grotesk.“ Er fügt hinzu: „Das Beste wäre gewesen, Merkel hätte gar nichts gesagt.“ Die deutsche Kanzlerin tritt vor laufenden Kameras also für exakt jene liberalen Werte ein, für die auch Augstein vorgibt, zu kämpfen. Doch da sie die deutsche Kanzlerin ist, kanzelt Augstein ihren Aufruf als töricht ab. So klingt die Peitsche der Moralmasochisten. Was sich im ersten Moment ein wenig nach Doppeldenk anhört, ist in Wahrheit die absolut schlüssige Logik der Berufsselbstgeißler: Aus Merkels Mund sind Aussagen über Werte per se unglaubwürdig, denn sie ist eine Vertreterin westlicher Macht. Und wer ist der größte Totengräber der westlichen Werte? Der Westen selbst. Seinen politischen Führern sind sie doch längst nur noch Lippenbekenntnisse wert.

Für die Moralmasochisten ist die Herkunft des Überbringers der Nachricht von größter Wichtigkeit. Geht es nach ihnen, können Vertreter westlicher Macht – Politiker, Unternehmer, Millionäre – nie glaubwürdig für moralische Ideale einstehen. Das bleibt den Unterdrückten und Ausgegrenzten vorbehalten. Auf der anderen Seite ist es der westliche Gesellschaftskritiker, dessen Wort das größte Gewicht hat, wenn es darum geht, die Verfehlungen des Westens anzuprangern. Während also die Schwachen die Fackel universeller Werte hochhalten dürfen, ist es den Starken lediglich gegeben, am westlichen Selbstbewusstsein zu zündeln. Wer gegen dieses ungeschriebene Gesetz aufbegehrt, bekommt die Verachtung des Moralmasochisten zu spüren. Gut zu beobachten ist das im Fall Augstein immer dann, wenn er auf jene liberalen Muslime trifft, die für eine Reform, beziehungsweise eine Aufklärung des islamischen Glaubens eintreten. Die Erfahrungen, Einsichten und Expertise einer Necla Kelek oder eines Hamed Abdel-Samad wischt Augstein im TV-Talk „Unter den Linden“ mit einem verächtlichen „Ja, da haben Sie ja genau die Richtigen erwähnt, ne?“ beiseite. Warum? Weil Kelek und Abdel-Samad den Islam einer kritischen, schonungslosen Prüfung unterziehen, weil sie das Problem des Islamismus auch als hausgemacht sehen. Doch das widerspricht der allgemein linken soziologischen Lesart, welche die Operanden Kultur, Religion und Ideologie aus der Gleichung komplett herauskürzt und im Islamismus nur ein, so Augstein, „soziales Problem“ sieht: „Ich bin ja so ein langweiliger Linker, ich glaube ja immer das [Problem] liegt daran, wie es den Leuten geht. Das geht so von außen nach innen, und nicht von innen nach außen.“ Damit ist der Islamismus nur noch eine Art soziopolitisch bedingter Reflex. Individuelle Verantwortung, selbstbestimmtes Denken und Handeln haben in diesem Erklärmodell ausgeschissen. Für den Moralmasochisten ist das ein Geschenk: Schuld am Hass auf den Westen ist jetzt allein der Westen. Er allein agiert, während die islamische Welt nur in der ihr zuerkannten Rolle reagiert, der des rachsüchtigen Opfers. Merke: der Orientalismus von heute kommt von links.

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Nicht Augsteins kind of muslim. V.l.n.r.: Hamed Abdel-Samad, Necla Kelek, Ahmad Mansour, Mina Ahadi

Ist es unfair, Augstein als Orientalisten zu bezeichnen? Schon möglich. Aber sein persönliches Islambild, das er in einem Gespräch mit dem Psychologen Ahmad Mansour preisgibt, weist in eben genau diese Richtung. Augstein fragt: „Ist der Islam nicht ein bisschen die Religion der Underdogs? Also die Religion, die, um ein großes Wort zu benutzen, ein sozialrevolutionäres Potential hat?“ Klingt schon fast wehmütig. Kann man ein verklärteres Bild vom Islam der Gegenwart zeichnen? Im Gespräch mit Mansour ging es wohlgemerkt um die Radikalisierung junger Muslime. Zwar bezeichnet Augstein Islamisten und Dschihadisten nicht direkt als Sozialrevolutionäre, doch seine romantisierende Darstellung lässt dann doch ein wenig rebellischen Abglanz auf sie herab rieseln. Aber diese Rechnung ist einfach, viel zu einfach. Die islamische Welt steht seit langer Zeit auf der Verliererseite der Geschichte, der Westen auf der Gewinnerseite – getragen von Aufklärung, technischem Fortschritt und dem Siegeszug des von Augstein bei jeder Gelegenheit dämonisierten Kapitalismus. Haftet somit nicht jeder gegen den Westen gerichteten ideologischen Bewegung – auch dem Islamismus – das edle Motiv des Gerechtigkeitskämpfers an? Ist man nicht immer ein bisschen für die Underdogs? Aber wieder gewinnt man den Eindruck, dass Augstein es mit Werten am Ende nicht ganz so ernst meint. Denn „Liberalismus, Toleranz und Gleichberechtigung“ wird das dem politischen Islam innewohnende „sozialrevolutionäre Potential“ mit Blick auf die Realität eher nicht freisetzen. Aber Scham ist ein starkes Gefühl, und der Moralmasochist schämt sich für das Privileg, im Westen aufgewachsen zu sein. Er fühlt sich schuldig, Elend, Krieg und Tyrannei nicht am eigenen Leib erfahren zu haben. Klammheimlich fiebert er ein bisschen mit jenen Kräften mit, die sich das Ende des Westens hochoffiziell auf die Fahne geschrieben haben.

Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es diese verdruckste Schadenfreude war, die Augsteins apokalyptische Weissagungen nach der Wahl Trumps durchströmte. Das ist natürlich frei interpretiert, aber ohne diese Interpretation ergibt Augstein für mich einfach überhaupt keinen Sinn. Das eine Standbein des Moralmasochisten ist das Bestehen auf die eigene Schuld am Bösen in der Welt. Das andere ist das Verweigern eines konstruktiven Dialogs. Aber wie wäre es zur Abwechslung hiermit: Welche positiven Lehren ziehen wir aus der Geschichte des Westens? Gibt es Dinge, die wir feiern können? Was können wir in Zukunft ändern, ohne die Welt komplett einzureißen? Was ist die Vision? Wenn ich Augstein lese und höre, vermisse ich diese positive Grundhaltung. Das klingt vielleicht naiv. Aber Schuldneurosen und Selbsthass sind nun mal keine produktiven Kräfte (abgesehen davon sind sie, die Geschichte des Westens betreffend, etwas überansprucht worden, aber das würde den Rahmen dieses Textes sprengen). Mag sein, dass dieses Schuldgesuhle in einer chaotisch wirkenden Welt dem eigenen Gewissen etwas Abkühlung verschafft. Aber was weiter? Das Versinken in Selbstbezogenheit und Apathie ist keine Option. Augstein und die Riege der Moralmasochisten sind bei aller aggressiv zur Schau gestellten Systemkritik zahnlose Tiger. Der britische Journalist Nick Cohen erzählt in einem Interview davon, dass die Wohnzimmerregale einiger der reichsten Londoner Bürger, bei denen er zu Gast war, vollgestellt sind mit Büchern Noam Chomskys. Jene Menschen also, die am meisten vom gegenwärtigen System profitieren, lesen ausgerechnet den Mann, der das gegenwärtige System am heftigsten kritisiert. Warum, fragt sich Cohen. Weil selbst die vernichtendste Kritik ohne ein positives Gegenprogramm im Angebot nicht die geringste Bedrohung für den Status quo darstellt.

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Postfaktisch ist das neue postmodern.

Zurück zum Ausgangspunkt des Textes. Warum bin ich froh, in Tagen wie diesen kein Linker zu sein? Als ich nach Trumps Wahlsieg wieder in die etwas grauer und kälter gewordene Realität zurückgefunden hatte, tat ich erst einmal folgendes: Ich suchte im Netz nach Stimmen, die ich in der Vergangenheit ihrer Vernunft, Klarsicht und Menschlichkeit wegen zu schätzen gelernt hatte. Ich wollte wissen, wie sie die anstehende Präsidentschaft Donald Trumps einordneten. Ich wollte für den ersten Moment ein bisschen beruhigt und getröstet werden. Aber vor allem wollte ich Mut zugesprochen bekommen. Ich wollte, dass sich die nach dem 8. November breitgemachte Schockstarre auflöste, und sich so etwas wie eine trotzige, renitente Zuversicht mit Blick auf die kommenden vier Jahre einstellte. Ohne dabei angelogen oder die Realität schöngeredet zu bekommen. Ohne dem allgemeinen Normalisierungswahn der Präsidentschaft Trumps zu verfallen. Und der Plan ging auf, ich wurde fündig. Da gab es kritische Selbsthinterfragung, Rezeptvorschläge für die Zukunft, grimmige Aufbruchsstimmung. Angerührt von sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten: Sam Harris etwa, der als Rassist und Islamhasser verschrien wird. Nick Cohen, der von der britischen Linken, deren Kämpfe er mitgefochten hat, wie ein Aussätziger behandelt wird. Oder Maajid Nawaz, der Islamreformer, der von links als „native informant“ und Hassprediger diskreditiert wird. Aber was wäre, wenn Augstein, wenn Chomsky die Stimmen meiner Wahl gewesen wären? Ich denke, ich hätte mich verkriechen oder erschießen müssen. Nein, die Wahl Trumps muss nicht das Ende des Westens bedeuten. Der Moralmasochismus muss es auch nicht. Aber beide dürfen sich Chancen ausrechnen.

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Jürgen Habermas ist das geistige Oberhaupt Deutschlands. Was bedeutet das für dieses Land?

Wer ist der global einflussreichste deutsche Denker der Gegenwart? Verschiedenen internationalen Ranglisten der letzten Jahre zufolge ist es der Philosoph Jürgen Habermas (das Schweizer Gottlieb Duttweiler Institut und das britische Prospect Magazine veröffentlichen jährlich solche Listen – meines Wissens die einzigen dieser Art). Ich muss gestehen, dass ich noch nie etwas von Habermas gelesen habe – auch wenn ich meine, schon das ein oder andere Mal über seinen Namen gestolpert zu sein, wobei das möglicherweise nur Einbildung ist. Ich habe aber auch folgenden Verdacht: die Gruppe Menschen, die Habermas‘ Schriften und Ideen kennt, ist ein gleichsam spezialisiert belesener wie erlesen kleiner Kreis. Mit anderen Worten: kaum eine Sau hat Jürgen Habermas gelesen. (Das ist weder wertend gemeint, noch stellt es seinen Status als „einflussreicher Denker“ in Abrede – Ideen, ob gute oder schlechte, brauchen keine breite Leserschaft, um sich zu verbreiten. Wie viele Menschen haben tatsächlich die Bibel, Marx, Freud oder de Beauvoir gelesen?) Je nach Jahr und Quelle lässt sich in diesen Intellektuellencharts noch ein kleines Sprengsel weiterer deutscher Namen zusammenkratzen: Ratzinger. Sloterdijk. Sarrazin. Da ist sie also, die deutsche Speerspitze auf dem internationalen Kampfplatz der Ideen, Durchschnittsalter 79. Und ich muss mich wundern: Ist Deutschlands intellektuelle Landschaft wirklich so brutal öde?

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Hier sehen Sie Deutschlands intellektuelle Crème de la Crème.

Gleich hinterher: hier geht es nicht um Inhalte. Ratzinger, Sloterdijk und Sarrazin reihen sich in meinem virtuellen Regal ungelesener Autoren gleich neben Habermas ein. Selbst wenn ich wollte, könnte ich hier also nicht über Inhalte schreiben. Habermas‘ Hauptwerk untersucht Wesen, Wirken und Potentiale von Kommunikation in der Gesellschaft (ausgerechnet die Kommunikation von Ideen scheint dabei nicht gerade Habermas‘ Stärke zu sein). Ratzinger ist Ex-Papst, ich weiß, dass er im Bundestag einmal in einer ziemlich dämlichen Rede vor den Gefahren eines wissenschaftlichen Weltbilds gewarnt und sich im Zuge des Missbrauchsskandals seiner Kirche moralisch über alle Maßen blamiert hat. Von Sloterdijk weiß ich nur, dass er in der Flüchtlingsdebatte unangenehm aufgefallen ist, mal einen Philosophietalk kurz vor Mitternacht moderierte und jetzt mit 69 einen Roman über den weiblichen Orgasmus geschrieben hat. Sarrazin hat in den Talkrunden, in denen ich ihn gesehen habe, auf mich eigentlich einen immer recht kauzig-sympathischen Eindruck gemacht, wären da nicht seine abtörnenden biologistischen Tendenzen.

Aber geschenkt, es geht nicht um Inhalte. Der Punkt ist: Der einzige Denker aus dieser Reihe, der einem breiten Publikum bekannt ist, ist Thilo Sarrazin. Er hat immerhin ein paar Bestseller geschrieben und war sich nicht zu schade, seine Thesen bei Maischberger und Co. sowie in den Kulturteilen deutscher Zeitungen darzulegen und zu verteidigen. Habermas, Ratzinger und Sloterdijk dagegen, so einflussreich sie auch sein mögen, schreiben für ein ganz anderes Publikum. Oder schreiben sie überhaupt für ein Publikum? Eigentlich habe ich eher den Eindruck, dass ihnen das Publikum schnurzegal ist – sie schreiben für ihresgleichen, und zu ihresgleichen, dazu gehöre definitiv nicht ich. Habermas, Ratzinger und Sloterdijk, die drei Fragezeichen, sie wirken auf mich wie ein Geheimclub ergrauter Hermeneuten, die in Elfenbeintürmen wohlklingende, verschwurbelte Weltdeutungen zusammenbrauen, welche dann von Soziologen, Philosophen und Theologen in muffigen Seminarräumen zerkaut und verdaut werden.

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Bei der Betrachtung der übrigen Namen auf diesen Listen fallen zwei Dinge auf. Erstens, der überproportionale Anteil von Denkern aus der Anglosphäre (USA, Großbritannien, Kanada, Australien). Zweitens, der vertraute Klang ihrer Namen – ihre Popularität – und, bemerkenswerter noch, die Vertrautheit mit ihren Thesen und Positionen. Richard Dawkins (egoistisches Gen), Noam Chomsky (militärisch-industrieller Komplex), Daniel Kahneman (Prospect Theory), Steven Pinker (Rückgang von Gewalt), Peter Singer (effektiver Altruismus), Paul Krugman (Staatsschulden, yeah!), Jared Diamond (Wohlstandsgefälle zwischen Zivilisationen), Al Gore (Klimawandel), Edward Snowden, Glenn Greenwald (Überwachung), Naomi Klein (Shock Doctrine). Was all diese Biologen, Linguisten, Ökonomen, Anthropologen, Politiker, Whistleblower und Journalisten gemein haben, ist dass sie in ihrem jeweiligen Feld oft Bahnbrechendes geleistet haben und gleichzeitig prominente Gestalten des öffentlichen Lebens sind. Viele von ihnen haben neben „seriösen“ Arbeiten populär(wissenschaftlich)e Bücher geschrieben, die sich oft monatelang in Bestseller-Listen hielten. Sie halten Lesungen, sie sind gefragte TV-Gäste, locken Hunderte, oft Tausende Zuhörer zu ihren öffentlichen Podiumsdiskussionen, die hinterher auf Youtube hunderttausende Klicks einfahren. Nicht nur Fachpresse und Feuilleton nehmen ihre Ideen auseinander, auch in Politik, Kultur und Gesellschaft ist ihr Einfluss spürbar. Damit befinden sich diese Denker was Öffentlichkeit angeht in einer komplett anderen Dimension als ihre deutschsprachigen Kollegen. Das kann nicht allein an der Sprachbarriere liegen. Immerhin gab es auch eine Zeit (was bin ich froh, dass es nicht meine ist), da waren Baudrillard, Deleuze, Derrida und Foucault die bestimmenden Figuren der internationalen Intellektuellenszene. Und wenn es jemanden gibt, der das Englische noch schlechter beherrscht als die Deutschen, dann die Franzosen. Sprache allein erklärt noch nichts.

Eine vielversprechendere Spur bietet in meinen Augen das Wesen des deutschen Intellektuellen. Erfolg bei den Massen ist im Allgemeinen kein Grund für Deutschlands Denker, stolz zu sein – Intelligibilität gilt unter deutschsprachigen Intellektuellen nicht als Aushängeschild, sondern als Stigma. Geistige Tiefe und breite Rezeption schließen sich aus, so der Gedanke – ein urdeutsches Phänomen. Genie macht einsam. Und so lässt sich die Popularität anglophoner Denker aus deutscher Dichter-und-Denker-Sicht bequem mit Oberflächlichkeit und Geistlosigkeit wegerklären. Oder – eine Nummer härter, aber prinzipiell das Gleiche – man lacrimosert über einen allesverderbenden Kulturimperialismus von jenseits des Atlantiks.

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Amerikaner, Kanadier, Engländer, Australier – Kulturimperialisten unite!

Nun ist es unwahrscheinlich, dass deutsche Intellektuelle genetisch oder kulturell bedingt aus einem tieferen geistigen Potential schöpfen können als englischsprachige Denker, und auch der Gedanke, dass amerikanische Intellektuelle das europäische Denken kulturimperialistisch unterworfen haben sollen, klingt nach einer traurigen Ausrede. Ich glaube schlicht, dass das deutsche Geistesleben sich in einem erbarmungswürdigen Zustand befindet, und dass dies ein hausgemachtes Problem ist.

Es gab eine Zeit nach 1945, in der die Stimmen in Deutschland geborener Denker international ein enormes Gewicht hatten – nur prägten sie den Diskurs zu einem großen Teil nicht aus Deutschland heraus, sondern aus den USA. Ich denke an Hannah Arendt, Theodor Adorno, Max Horkheimer oder Herbert Marcuse (übrigens: kein Englisch-As darunter). Wenn man Deutschlands heutige geistige Dürreperiode verstehen will, führt kein Weg am Elefanten im Raum vorbei: die in den Jahren ’33 bis ’45 massenhaft erfolgte Emigration jüdischer Denker war ein Braindrain sondergleichen. Ein solcher intellektueller Kahlschlag muss Spuren hinterlassen. Diejenigen volksdeutschen Intellektuellen, die sich von den Nazis den Marsch blasen ließen – was hatten sie nach ’45 noch zu melden? Sie waren moralisch bankrott. Hoch verschuldet. Weiterhin intellektuell Kredit erhielten nur jene Denker, deren Weltentwürfe essenzialistisch genug waren, um alles oder auch nichts bedeuten zu können (so gelang es einem vor dem Führer buckelnden Waldgeist wie Heidegger, sich weitgehend unbeschadet aus der Affäre zu ziehen). Die in Deutschland verbliebene Intelligenz war zu einer Pariahgemeinde geworden, und diesen Schandfleck sollte man so schnell nicht wieder loswerden. Symptomatisch dafür der Historikerstreit in den 80er-Jahren, in denen der Versuch unternommen wurde, einige Geister der Vergangenheit zu vertreiben. Es war nebenbei bemerkt die letzte große, auf nationaler Ebene mit offenem Visier geführte Debatte, die größere Teile der Gesellschaft zu elektrisieren vermochte.

Den Fehdehandschuh warf damals übrigens niemand anderes als Jürgen Habermas – die Tatsache, dass es sich bei der prägenden Gestalt des intellektuellen Deutschlands heute wie vor 30 Jahren um ein und dieselbe Person handelt, zeugt entweder von der geistigen Größe Habermas‘ oder vom Mangel an intellektueller Konkurrenz (oder von beidem).

Historische Altlasten sorgen immer noch dafür, dass sich in Deutschland keine lebendige Intellektuellenszene herausbilden will, die sich ungezwungen und ohne Berührungsängste in gesellschaftliche Debatten einbringt. Hinzu kommt dass Deutschlands Intellektuelle dazu tendieren, der breiten Bevölkerung mit Misstrauen, wenn nicht sogar mit Verachtung zu begegnen. Und das beruht leider auf Gegenseitigkeit. Das Misstrauen gegenüber den Massen in Deutschland hängt mit seiner demokratischen Unreife zusammen. Deutschlands Demokratie ist nicht gewachsen, wurde auch nicht erkämpft. Sie wurde dem Land übergestülpt. Und der Anzug scheint immer noch nicht recht zu passen. Gemessen am Verhalten von Intelligenz, Politik und Medien hat man den Eindruck, dass Deutschlands geistige Eliten der Bevölkerung als Gemeinschaft mündiger Individuen noch immer nicht so recht über den Weg trauen. Es gibt Denkverbote (Holocaustleugnung, Volksverhetzung), Blasphemiegesetze und einen Paragraphen, der ausländische Staatschefs vor Beleidigung schützt. Es existiert eine staatliche Zensurstelle, die darüber entscheidet, welche Bücher, Musik, Filme und Computerspiele volljährige Staatsbürger konsumieren dürfen. Eine Richtlinie des deutschen Pressekodex rät von der Nennung ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit von Straftätern ab, um nationale Minderheiten vor Diskriminierung zu schützen. Meinungs- und Informationsfreiheit werden in Deutschland selektiv gehandhabt. All dies geschieht zwar in bester Absicht, nämlich den sozialen Frieden im Land zu wahren, aber so oder so wirft es kein gutes Licht auf den Reifezustand einer demokratischer Kultur: letztlich greift der deutsche Staat anlasslos in grundlegende Persönlichkeitsrechte ein, und dann ist es egal, ob er es gut oder böse mit uns meint. Er ist im Unrecht.

zensur

Drei Kulturerzeugnisse, die so gefährlich und gesellschaftszersetzend sind, dass erwachsenen Menschen in Deutschland nicht gestattet ist, selbst darüber zu entscheiden, sie zu konsumieren: der Softporno „Der Krankenschwestern-Report“ (1972), das Videospiel „Mortal Kombat“ (1992) und die Punkrockscheibe „Eating Lamb“ von NOFX.

Das Misstrauen gegenüber der Masse ist dabei nicht nur Sache der politischen und intellektuellen Eliten. Es handelt sich um ein breiteres Problem, ein Basisproblem. Wenn immer mehr Menschen in politischen Wahlen nichts weiter sehen als eine Farce, wenn sie in gewählten Staatsvertretern bloß Marionetten diffuser Strippenzieher zu erkennen glauben (die wahlweise die Interessen der Wirtschaft, des militärisch-industriellen Komplexes oder auch altmodischer: des Weltjudentums durchdrücken), dann ist das deutsche Demokratieproblem in der Mitte der Bevölkerung angekommen. Es sind nicht nur Fans von KenFM oder PEGIDA und selbsterklärte Reichsbürger, die sich diesem in letzter Konsequenz defätistischen Weltbild hingeben. In den Youtube-Kommentarspalten der fest im gesellschaftlichen Mainstream verankerten Talkshows des öffentlich-rechtlichen Fernsehens oder des auf ein jüngeres Zielpublikum ausgerichteten Infokanals Jung & naiv (mit immerhin 16 Millionen Klicks) finden sich reihenweise Beiträge, in denen ein erleuchteter Zirkel Weltdurchschauer über die grenzenlose Dummheit und Leichtgläubigkeit der Massen überlegen lächelt: „Wie blind,“ so der Tenor, „muss man sein, nicht zu erkennen, dass uns die Strategen der Neuen Weltordnung mit ihrer Politikposse nach allen Regeln der Kunst manipulieren und belügen?“ „Traue keinem Politiker, keinem Journalisten und keinem sogenannten Experten!“

jungnaiv

Ausgewählte Kommentare unter den Videos des Youtube-Kanals Jung & naiv.

Keine Ahnung, wie in einem solchen Klima eine offene, ehrliche und ergebnisorientierte Debattenkultur entstehen soll, wenn sich die eine Seite nach dem Muster einer selbsterfüllenden Prophezeiung immer weiter von der eigenen Sprach- und Machtlosigkeit zu überzeugen versucht, und die andere Seite die Volksmasse als ein zu kontrollierendes Sicherheitsrisiko für die gesellschaftliche Ordnung wahrnimmt. Ohne gegenseitiges Vertrauen keine Demokratie.

Ein anderes untrügliches Zeichen für Deutschlands fehlende demokratische Reife ist der Mangel an Streitkultur. Beispielsweise haben Debattierclubs an Schulen und Universitäten in den Ländern der Anglosphäre eine lange Tradition, im Gegensatz zu Deutschland. Ich habe während meiner kompletten Schullaufbahn kein einziges Mal an einer ordentlichen Debatte teilnehmen müssen, weder als Diskutant noch als Zuhörer. Was ist das für ein Verständnis von Bildung und Persönlichkeitsentwicklung? Dann wären da noch die deutschen Hochschulen, die international längst kein so hohes Ansehen mehr genießen (wieviele Studenten aus dem Ausland es wohl noch nach Deutschland verschlagen würde, wenn die Studiengebühren nicht so niedrig wären?). Universitäten sind die Knotenpunkte des intellektuellen Lebens, doch wo an deutschen Unis zwar studiert, aber nicht gelebt und sozialisiert wird, organisiert sich das Leben an britischen und amerikanischen Hochschulen um den Campus herum: ein eigener Mikrokosmos, eine Art Staat im Staat, mit eigenen Unterkünften, Bibliotheken, Bars und Bühnen, wo Studenten gemeinsam leben, lernen und sich austauschen, wo sie sich auch ins Private zurückziehen können. Der Kontakt zu den Professoren ist im Allgemeinen persönlicher und weniger autoritär geprägt – eigentlich ein Bestandteil des Humboldtschen Bildungsideals. Kein Wunder, dass man in einer solchen Umgebung die eigenen Überzeugungen und Ideen nachdrücklicher zu formulieren und vertreten lernt – mittlerweile leider auch bis ins Perverse nachdrücklich: an den amerikanischen Unis tobt (mal wieder) ein Kulturkrieg, in dessen Mittelpunkt ein lautstarker, hysterischer Mob steht, der vor unliebigen, abweichenden Meinungen auf dem Campus (der Campus ist nicht genug, steht zu befürchten) geschützt werden will. Die Kampfbegriffe lauten Safe Spaces, Micro Aggressions und Trigger Warnings. Diesen selbstherrlichen Befindlichkeitsfetischisten bläst glücklicherweise ein immer heftigerer Gegenwind ins Gesicht und es bleibt zu hoffen, dass sie vielleicht irgendwann erwachsen werden.

Aber zurück nach Deutschland, wo sich die Streitkultur auch außerhalb der Bildungsstätten in einem beklagenswerten Zustand befindet. Die Talkrunden des öffentlich-rechtlichen Fernsehens sind nahezu beliebig austauschbar, die Diskussionen blutleer. Die am häufigsten eingeladenen Gäste sind nicht etwa unabhängige Experten, Buchautoren oder Journalisten, sondern Politiker – nicht unbedingt die Gesellschaftsgruppe, der man in einer öffentlichen Debatte zutrauen würde, unbefangen, furchtlos und ideologiefrei die drängenden Probleme unserer Zeit anzugreifen (nicht das Politiker automatisch Obskuranten oder Lügner wären, aber sie müssen bei allem was sie sagen ihre Parteilinie und Wählerzielgruppe im Blick behalten). Und so laufen die meisten „Diskussionen“ entweder auf einen zahmen Konsens potentieller Bündnispartner oder aber die Diskreditierung politischer Gegner hinaus. Eine ergebnisoffene, kontrovers geführte Debatte kann so kaum stattfinden. (Freunde sagen mir, dass das in den Talkrunden im Radio anders sei, aber ich frage mich, wieviele Menschen das Kulturradio erreicht?) Zu selten wird aggressiv gestritten, auch weil die Moderation ihren Job zu wörtlich nimmt. Wer sich dagegen in den USA oder in England in ein TV-Studio begibt, muss damit rechnen, über offener Flamme gegrillt zu werden (Frauke Petry hat das zuletzt erfahren und sich übrigens erschreckend gut geschlagen, hatte vielleicht mit ihrer Studienzeit in England zu tun).

jungnaiv

Schaffte es auch mit gepunkteten rosa Krawatten auf Platz 1 der meisteingeladenen Talkshow-Gäste 2015: Wolfgang Bosbach.

In den 90er-Jahren hatten die USA ihre Culture- und Science-Wars, zu denen alle Zeitungen und TV-Stationen der Nation ihren Senf dazugaben. Heute ist parallel zu den weiter oben erwähnten Auseinandersetzungen an den Hochschulen eine heftige nationale Rassismus-Debatte im Gange, die das Land in Atem hält, und zu der jeder eine Meinung hat, von Barack Obama bis hin zum Youtube-Vlogger. Zugegeben, dabei tun sich mitunter Gräben auf, die die Gesellschaft zu zerreißen drohen. Dennoch, einen solch selbstbewussten, konfrontativen Umgang mit divergierenden Standpunkten habe ich in Deutschland noch nicht erlebt. Dazu fehlt es hierzulande auch an Protagonisten und Antagonisten. Um eine gesamtgesellschaftliche Debatte anzustoßen sind Habermas, Sloterdijk und Ratzinger viel zu unsichtbar. Und gegen wen reden sie überhaupt an? Wer sind ihre intellektuellen Gegenspieler? Mit wem haben sie Beef? Schaut man in die USA oder nach England, verliert man schnell den Überblick in einem Gewirr enorm unterhaltsamer und anregender Fehden zwischen Intellektuellen. Warum gibt es das nicht in Deutschland? Man kann das natürlich dahingehend interpretieren, dass in Deutschland eben etwas sachlicher, erwachsener, akademischer debattiert wird. Aber vielleicht sind die öffentlichen Diskussionen in Deutschland, wenn sie denn mal stattfinden, auch einfach nur arschlangweilig. Sarrazin ist in dieser Reihe wieder ein Sonderfall, denn er hat viele erklärte Feinde – aber kaum ein öffentlicher Denker des Establishments wagt es, seine Thesen ernsthaft auf Brauchbares abzuklopfen, stattdessen überbietet man sich gegenseitig in Ostrazismus. Virtue signalling nennt man das im englischsprachigen Raum – statt den Gegner argumentativ anzugreifen, wird lieber die eigene moralische Überlegenheit zur Schau gestellt, um sich mit dem Bildungsbürger-Publikum zu verbrüdern. Man sagt nicht das, wovon man überzeugt ist, sondern das, was von einem erwartet wird. In diesem Moment ist demokratische Kultur aber nur noch ein Maskenball. Wer Demokratie nicht verinnerlicht hat, muss sie eben spielen.