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Habermas papam?

Jürgen Habermas ist das geistige Oberhaupt Deutschlands. Was bedeutet das für dieses Land?

Wer ist der global einflussreichste deutsche Denker der Gegenwart? Verschiedenen internationalen Ranglisten der letzten Jahre zufolge ist es der Philosoph Jürgen Habermas (das Schweizer Gottlieb Duttweiler Institut und das britische Prospect Magazine veröffentlichen jährlich solche Listen – meines Wissens die einzigen dieser Art). Ich muss gestehen, dass ich noch nie etwas von Habermas gelesen habe – auch wenn ich meine, schon das ein oder andere Mal über seinen Namen gestolpert zu sein, wobei das möglicherweise nur Einbildung ist. Ich habe aber auch folgenden Verdacht: die Gruppe Menschen, die Habermas‘ Schriften und Ideen kennt, ist ein gleichsam spezialisiert belesener wie erlesen kleiner Kreis. Mit anderen Worten: kaum eine Sau hat Jürgen Habermas gelesen. (Das ist weder wertend gemeint, noch stellt es seinen Status als „einflussreicher Denker“ in Abrede – Ideen, ob gute oder schlechte, brauchen keine breite Leserschaft, um sich zu verbreiten. Wie viele Menschen haben tatsächlich die Bibel, Marx, Freud oder de Beauvoir gelesen?) Je nach Jahr und Quelle lässt sich in diesen Intellektuellencharts noch ein kleines Sprengsel weiterer deutscher Namen zusammenkratzen: Ratzinger. Sloterdijk. Sarrazin. Da ist sie also, die deutsche Speerspitze auf dem internationalen Kampfplatz der Ideen, Durchschnittsalter 79. Und ich muss mich wundern: Ist Deutschlands intellektuelle Landschaft wirklich so brutal öde?

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Hier sehen Sie Deutschlands intellektuelle Crème de la Crème.

Gleich hinterher: hier geht es nicht um Inhalte. Ratzinger, Sloterdijk und Sarrazin reihen sich in meinem virtuellen Regal ungelesener Autoren gleich neben Habermas ein. Selbst wenn ich wollte, könnte ich hier also nicht über Inhalte schreiben. Habermas‘ Hauptwerk untersucht Wesen, Wirken und Potentiale von Kommunikation in der Gesellschaft (ausgerechnet die Kommunikation von Ideen scheint dabei nicht gerade Habermas‘ Stärke zu sein). Ratzinger ist Ex-Papst, ich weiß, dass er im Bundestag einmal in einer ziemlich dämlichen Rede vor den Gefahren eines wissenschaftlichen Weltbilds gewarnt und sich im Zuge des Missbrauchsskandals seiner Kirche moralisch über alle Maßen blamiert hat. Von Sloterdijk weiß ich nur, dass er in der Flüchtlingsdebatte unangenehm aufgefallen ist, mal einen Philosophietalk kurz vor Mitternacht moderierte und jetzt mit 69 einen Roman über den weiblichen Orgasmus geschrieben hat. Sarrazin hat in den Talkrunden, in denen ich ihn gesehen habe, auf mich eigentlich einen immer recht kauzig-sympathischen Eindruck gemacht, wären da nicht seine abtörnenden biologistischen Tendenzen.

Aber geschenkt, es geht nicht um Inhalte. Der Punkt ist: Der einzige Denker aus dieser Reihe, der einem breiten Publikum bekannt ist, ist Thilo Sarrazin. Er hat immerhin ein paar Bestseller geschrieben und war sich nicht zu schade, seine Thesen bei Maischberger und Co. sowie in den Kulturteilen deutscher Zeitungen darzulegen und zu verteidigen. Habermas, Ratzinger und Sloterdijk dagegen, so einflussreich sie auch sein mögen, schreiben für ein ganz anderes Publikum. Oder schreiben sie überhaupt für ein Publikum? Eigentlich habe ich eher den Eindruck, dass ihnen das Publikum schnurzegal ist – sie schreiben für ihresgleichen, und zu ihresgleichen, dazu gehöre definitiv nicht ich. Habermas, Ratzinger und Sloterdijk, die drei Fragezeichen, sie wirken auf mich wie ein Geheimclub ergrauter Hermeneuten, die in Elfenbeintürmen wohlklingende, verschwurbelte Weltdeutungen zusammenbrauen, welche dann von Soziologen, Philosophen und Theologen in muffigen Seminarräumen zerkaut und verdaut werden.

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Bei der Betrachtung der übrigen Namen auf diesen Listen fallen zwei Dinge auf. Erstens, der überproportionale Anteil von Denkern aus der Anglosphäre (USA, Großbritannien, Kanada, Australien). Zweitens, der vertraute Klang ihrer Namen – ihre Popularität – und, bemerkenswerter noch, die Vertrautheit mit ihren Thesen und Positionen. Richard Dawkins (egoistisches Gen), Noam Chomsky (militärisch-industrieller Komplex), Daniel Kahneman (Prospect Theory), Steven Pinker (Rückgang von Gewalt), Peter Singer (effektiver Altruismus), Paul Krugman (Staatsschulden, yeah!), Jared Diamond (Wohlstandsgefälle zwischen Zivilisationen), Al Gore (Klimawandel), Edward Snowden, Glenn Greenwald (Überwachung), Naomi Klein (Shock Doctrine). Was all diese Biologen, Linguisten, Ökonomen, Anthropologen, Politiker, Whistleblower und Journalisten gemein haben, ist dass sie in ihrem jeweiligen Feld oft Bahnbrechendes geleistet haben und gleichzeitig prominente Gestalten des öffentlichen Lebens sind. Viele von ihnen haben neben „seriösen“ Arbeiten populär(wissenschaftlich)e Bücher geschrieben, die sich oft monatelang in Bestseller-Listen hielten. Sie halten Lesungen, sie sind gefragte TV-Gäste, locken Hunderte, oft Tausende Zuhörer zu ihren öffentlichen Podiumsdiskussionen, die hinterher auf Youtube hunderttausende Klicks einfahren. Nicht nur Fachpresse und Feuilleton nehmen ihre Ideen auseinander, auch in Politik, Kultur und Gesellschaft ist ihr Einfluss spürbar. Damit befinden sich diese Denker was Öffentlichkeit angeht in einer komplett anderen Dimension als ihre deutschsprachigen Kollegen. Das kann nicht allein an der Sprachbarriere liegen. Immerhin gab es auch eine Zeit (was bin ich froh, dass es nicht meine ist), da waren Baudrillard, Deleuze, Derrida und Foucault die bestimmenden Figuren der internationalen Intellektuellenszene. Und wenn es jemanden gibt, der das Englische noch schlechter beherrscht als die Deutschen, dann die Franzosen. Sprache allein erklärt noch nichts.

Eine vielversprechendere Spur bietet in meinen Augen das Wesen des deutschen Intellektuellen. Erfolg bei den Massen ist im Allgemeinen kein Grund für Deutschlands Denker, stolz zu sein – Intelligibilität gilt unter deutschsprachigen Intellektuellen nicht als Aushängeschild, sondern als Stigma. Geistige Tiefe und breite Rezeption schließen sich aus, so der Gedanke – ein urdeutsches Phänomen. Genie macht einsam. Und so lässt sich die Popularität anglophoner Denker aus deutscher Dichter-und-Denker-Sicht bequem mit Oberflächlichkeit und Geistlosigkeit wegerklären. Oder – eine Nummer härter, aber prinzipiell das Gleiche – man lacrimosert über einen allesverderbenden Kulturimperialismus von jenseits des Atlantiks.

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Amerikaner, Kanadier, Engländer, Australier – Kulturimperialisten unite!

Nun ist es unwahrscheinlich, dass deutsche Intellektuelle genetisch oder kulturell bedingt aus einem tieferen geistigen Potential schöpfen können als englischsprachige Denker, und auch der Gedanke, dass amerikanische Intellektuelle das europäische Denken kulturimperialistisch unterworfen haben sollen, klingt nach einer traurigen Ausrede. Ich glaube schlicht, dass das deutsche Geistesleben sich in einem erbarmungswürdigen Zustand befindet, und dass dies ein hausgemachtes Problem ist.

Es gab eine Zeit nach 1945, in der die Stimmen in Deutschland geborener Denker international ein enormes Gewicht hatten – nur prägten sie den Diskurs zu einem großen Teil nicht aus Deutschland heraus, sondern aus den USA. Ich denke an Hannah Arendt, Theodor Adorno, Max Horkheimer oder Herbert Marcuse (übrigens: kein Englisch-As darunter). Wenn man Deutschlands heutige geistige Dürreperiode verstehen will, führt kein Weg am Elefanten im Raum vorbei: die in den Jahren ’33 bis ’45 massenhaft erfolgte Emigration jüdischer Denker war ein Braindrain sondergleichen. Ein solcher intellektueller Kahlschlag muss Spuren hinterlassen. Diejenigen volksdeutschen Intellektuellen, die sich von den Nazis den Marsch blasen ließen – was hatten sie nach ’45 noch zu melden? Sie waren moralisch bankrott. Hoch verschuldet. Weiterhin intellektuell Kredit erhielten nur jene Denker, deren Weltentwürfe essenzialistisch genug waren, um alles oder auch nichts bedeuten zu können (so gelang es einem vor dem Führer buckelnden Waldgeist wie Heidegger, sich weitgehend unbeschadet aus der Affäre zu ziehen). Die in Deutschland verbliebene Intelligenz war zu einer Pariahgemeinde geworden, und diesen Schandfleck sollte man so schnell nicht wieder loswerden. Symptomatisch dafür der Historikerstreit in den 80er-Jahren, in denen der Versuch unternommen wurde, einige Geister der Vergangenheit zu vertreiben. Es war nebenbei bemerkt die letzte große, auf nationaler Ebene mit offenem Visier geführte Debatte, die größere Teile der Gesellschaft zu elektrisieren vermochte.

Den Fehdehandschuh warf damals übrigens niemand anderes als Jürgen Habermas – die Tatsache, dass es sich bei der prägenden Gestalt des intellektuellen Deutschlands heute wie vor 30 Jahren um ein und dieselbe Person handelt, zeugt entweder von der geistigen Größe Habermas‘ oder vom Mangel an intellektueller Konkurrenz (oder von beidem).

Historische Altlasten sorgen immer noch dafür, dass sich in Deutschland keine lebendige Intellektuellenszene herausbilden will, die sich ungezwungen und ohne Berührungsängste in gesellschaftliche Debatten einbringt. Hinzu kommt dass Deutschlands Intellektuelle dazu tendieren, der breiten Bevölkerung mit Misstrauen, wenn nicht sogar mit Verachtung zu begegnen. Und das beruht leider auf Gegenseitigkeit. Das Misstrauen gegenüber den Massen in Deutschland hängt mit seiner demokratischen Unreife zusammen. Deutschlands Demokratie ist nicht gewachsen, wurde auch nicht erkämpft. Sie wurde dem Land übergestülpt. Und der Anzug scheint immer noch nicht recht zu passen. Gemessen am Verhalten von Intelligenz, Politik und Medien hat man den Eindruck, dass Deutschlands geistige Eliten der Bevölkerung als Gemeinschaft mündiger Individuen noch immer nicht so recht über den Weg trauen. Es gibt Denkverbote (Holocaustleugnung, Volksverhetzung), Blasphemiegesetze und einen Paragraphen, der ausländische Staatschefs vor Beleidigung schützt. Es existiert eine staatliche Zensurstelle, die darüber entscheidet, welche Bücher, Musik, Filme und Computerspiele volljährige Staatsbürger konsumieren dürfen. Eine Richtlinie des deutschen Pressekodex rät von der Nennung ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit von Straftätern ab, um nationale Minderheiten vor Diskriminierung zu schützen. Meinungs- und Informationsfreiheit werden in Deutschland selektiv gehandhabt. All dies geschieht zwar in bester Absicht, nämlich den sozialen Frieden im Land zu wahren, aber so oder so wirft es kein gutes Licht auf den Reifezustand einer demokratischer Kultur: letztlich greift der deutsche Staat anlasslos in grundlegende Persönlichkeitsrechte ein, und dann ist es egal, ob er es gut oder böse mit uns meint. Er ist im Unrecht.

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Drei Kulturerzeugnisse, die so gefährlich und gesellschaftszersetzend sind, dass erwachsenen Menschen in Deutschland nicht gestattet ist, selbst darüber zu entscheiden, sie zu konsumieren: der Softporno „Der Krankenschwestern-Report“ (1972), das Videospiel „Mortal Kombat“ (1992) und die Punkrockscheibe „Eating Lamb“ von NOFX.

Das Misstrauen gegenüber der Masse ist dabei nicht nur Sache der politischen und intellektuellen Eliten. Es handelt sich um ein breiteres Problem, ein Basisproblem. Wenn immer mehr Menschen in politischen Wahlen nichts weiter sehen als eine Farce, wenn sie in gewählten Staatsvertretern bloß Marionetten diffuser Strippenzieher zu erkennen glauben (die wahlweise die Interessen der Wirtschaft, des militärisch-industriellen Komplexes oder auch altmodischer: des Weltjudentums durchdrücken), dann ist das deutsche Demokratieproblem in der Mitte der Bevölkerung angekommen. Es sind nicht nur Fans von KenFM oder PEGIDA und selbsterklärte Reichsbürger, die sich diesem in letzter Konsequenz defätistischen Weltbild hingeben. In den Youtube-Kommentarspalten der fest im gesellschaftlichen Mainstream verankerten Talkshows des öffentlich-rechtlichen Fernsehens oder des auf ein jüngeres Zielpublikum ausgerichteten Infokanals Jung & naiv (mit immerhin 16 Millionen Klicks) finden sich reihenweise Beiträge, in denen ein erleuchteter Zirkel Weltdurchschauer über die grenzenlose Dummheit und Leichtgläubigkeit der Massen überlegen lächelt: „Wie blind,“ so der Tenor, „muss man sein, nicht zu erkennen, dass uns die Strategen der Neuen Weltordnung mit ihrer Politikposse nach allen Regeln der Kunst manipulieren und belügen?“ „Traue keinem Politiker, keinem Journalisten und keinem sogenannten Experten!“

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Ausgewählte Kommentare unter den Videos des Youtube-Kanals Jung & naiv.

Keine Ahnung, wie in einem solchen Klima eine offene, ehrliche und ergebnisorientierte Debattenkultur entstehen soll, wenn sich die eine Seite nach dem Muster einer selbsterfüllenden Prophezeiung immer weiter von der eigenen Sprach- und Machtlosigkeit zu überzeugen versucht, und die andere Seite die Volksmasse als ein zu kontrollierendes Sicherheitsrisiko für die gesellschaftliche Ordnung wahrnimmt. Ohne gegenseitiges Vertrauen keine Demokratie.

Ein anderes untrügliches Zeichen für Deutschlands fehlende demokratische Reife ist der Mangel an Streitkultur. Beispielsweise haben Debattierclubs an Schulen und Universitäten in den Ländern der Anglosphäre eine lange Tradition, im Gegensatz zu Deutschland. Ich habe während meiner kompletten Schullaufbahn kein einziges Mal an einer ordentlichen Debatte teilnehmen müssen, weder als Diskutant noch als Zuhörer. Was ist das für ein Verständnis von Bildung und Persönlichkeitsentwicklung? Dann wären da noch die deutschen Hochschulen, die international längst kein so hohes Ansehen mehr genießen (wieviele Studenten aus dem Ausland es wohl noch nach Deutschland verschlagen würde, wenn die Studiengebühren nicht so niedrig wären?). Universitäten sind die Knotenpunkte des intellektuellen Lebens, doch wo an deutschen Unis zwar studiert, aber nicht gelebt und sozialisiert wird, organisiert sich das Leben an britischen und amerikanischen Hochschulen um den Campus herum: ein eigener Mikrokosmos, eine Art Staat im Staat, mit eigenen Unterkünften, Bibliotheken, Bars und Bühnen, wo Studenten gemeinsam leben, lernen und sich austauschen, wo sie sich auch ins Private zurückziehen können. Der Kontakt zu den Professoren ist im Allgemeinen persönlicher und weniger autoritär geprägt – eigentlich ein Bestandteil des Humboldtschen Bildungsideals. Kein Wunder, dass man in einer solchen Umgebung die eigenen Überzeugungen und Ideen nachdrücklicher zu formulieren und vertreten lernt – mittlerweile leider auch bis ins Perverse nachdrücklich: an den amerikanischen Unis tobt (mal wieder) ein Kulturkrieg, in dessen Mittelpunkt ein lautstarker, hysterischer Mob steht, der vor unliebigen, abweichenden Meinungen auf dem Campus (der Campus ist nicht genug, steht zu befürchten) geschützt werden will. Die Kampfbegriffe lauten Safe Spaces, Micro Aggressions und Trigger Warnings. Diesen selbstherrlichen Befindlichkeitsfetischisten bläst glücklicherweise ein immer heftigerer Gegenwind ins Gesicht und es bleibt zu hoffen, dass sie vielleicht irgendwann erwachsen werden.

Aber zurück nach Deutschland, wo sich die Streitkultur auch außerhalb der Bildungsstätten in einem beklagenswerten Zustand befindet. Die Talkrunden des öffentlich-rechtlichen Fernsehens sind nahezu beliebig austauschbar, die Diskussionen blutleer. Die am häufigsten eingeladenen Gäste sind nicht etwa unabhängige Experten, Buchautoren oder Journalisten, sondern Politiker – nicht unbedingt die Gesellschaftsgruppe, der man in einer öffentlichen Debatte zutrauen würde, unbefangen, furchtlos und ideologiefrei die drängenden Probleme unserer Zeit anzugreifen (nicht das Politiker automatisch Obskuranten oder Lügner wären, aber sie müssen bei allem was sie sagen ihre Parteilinie und Wählerzielgruppe im Blick behalten). Und so laufen die meisten „Diskussionen“ entweder auf einen zahmen Konsens potentieller Bündnispartner oder aber die Diskreditierung politischer Gegner hinaus. Eine ergebnisoffene, kontrovers geführte Debatte kann so kaum stattfinden. (Freunde sagen mir, dass das in den Talkrunden im Radio anders sei, aber ich frage mich, wieviele Menschen das Kulturradio erreicht?) Zu selten wird aggressiv gestritten, auch weil die Moderation ihren Job zu wörtlich nimmt. Wer sich dagegen in den USA oder in England in ein TV-Studio begibt, muss damit rechnen, über offener Flamme gegrillt zu werden (Frauke Petry hat das zuletzt erfahren und sich übrigens erschreckend gut geschlagen, hatte vielleicht mit ihrer Studienzeit in England zu tun).

jungnaiv

Schaffte es auch mit gepunkteten rosa Krawatten auf Platz 1 der meisteingeladenen Talkshow-Gäste 2015: Wolfgang Bosbach.

In den 90er-Jahren hatten die USA ihre Culture- und Science-Wars, zu denen alle Zeitungen und TV-Stationen der Nation ihren Senf dazugaben. Heute ist parallel zu den weiter oben erwähnten Auseinandersetzungen an den Hochschulen eine heftige nationale Rassismus-Debatte im Gange, die das Land in Atem hält, und zu der jeder eine Meinung hat, von Barack Obama bis hin zum Youtube-Vlogger. Zugegeben, dabei tun sich mitunter Gräben auf, die die Gesellschaft zu zerreißen drohen. Dennoch, einen solch selbstbewussten, konfrontativen Umgang mit divergierenden Standpunkten habe ich in Deutschland noch nicht erlebt. Dazu fehlt es hierzulande auch an Protagonisten und Antagonisten. Um eine gesamtgesellschaftliche Debatte anzustoßen sind Habermas, Sloterdijk und Ratzinger viel zu unsichtbar. Und gegen wen reden sie überhaupt an? Wer sind ihre intellektuellen Gegenspieler? Mit wem haben sie Beef? Schaut man in die USA oder nach England, verliert man schnell den Überblick in einem Gewirr enorm unterhaltsamer und anregender Fehden zwischen Intellektuellen. Warum gibt es das nicht in Deutschland? Man kann das natürlich dahingehend interpretieren, dass in Deutschland eben etwas sachlicher, erwachsener, akademischer debattiert wird. Aber vielleicht sind die öffentlichen Diskussionen in Deutschland, wenn sie denn mal stattfinden, auch einfach nur arschlangweilig. Sarrazin ist in dieser Reihe wieder ein Sonderfall, denn er hat viele erklärte Feinde – aber kaum ein öffentlicher Denker des Establishments wagt es, seine Thesen ernsthaft auf Brauchbares abzuklopfen, stattdessen überbietet man sich gegenseitig in Ostrazismus. Virtue signalling nennt man das im englischsprachigen Raum – statt den Gegner argumentativ anzugreifen, wird lieber die eigene moralische Überlegenheit zur Schau gestellt, um sich mit dem Bildungsbürger-Publikum zu verbrüdern. Man sagt nicht das, wovon man überzeugt ist, sondern das, was von einem erwartet wird. In diesem Moment ist demokratische Kultur aber nur noch ein Maskenball. Wer Demokratie nicht verinnerlicht hat, muss sie eben spielen.